Neurologen berichten über den ungewöhnlichen Fall eines 60-jährigen Mannes, der an einer degenerativen Hirnerkrankung leidet. Es ist ihm nicht mehr möglich, die Zahlen 2 bis 9 zu erkennen.
Bei dem Mann, den die Autoren in ihrem Bericht RFS nennen, wird im Jahr 2011 eine kortikobasale Degeneration, eine degenerative Hirnerkrankung diagnostiziert. Neben Gedächtnisstörungen, Muskelkrämpfen und -zittern, berichtet der Geoingenieur noch über eine weitere auffällige Beschwerde, die ihn belastet: Er kann die Ziffern 2 bis 9 nicht mehr erkennen.
Ein echtes Desaster für jemanden, der hauptberuflich mit Zahlen umgeht. Auch im Alltag ein Problem, denn er kann keine Preisschilder, digitalen Uhren oder Hausnummern mehr lesen. Der Mann wird an die Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, USA, überwiesen, wo Neurologen den ungewöhnlichen Fall näher untersuchen.
Statt Zahlen sieht RFS ein Gewirr aus Linien ohne erkennbare Form – oder Spaghetti, wie der Patient es selbst nennt. Wird ihm zum Beispiel eine 8 gezeigt, ist es ihm unmöglich, die Zahl zu benennen oder sie auf ein Blatt Papier zu schreiben (siehe Video). Der Mann kann sich das Liniengewirr auch nicht merken, es erscheint ihm jedesmal ein neues, wenn er wegschaut und sich die Zahl erneut ansieht.
Das Video zeigt den Versuch des Patienten, die gezeigte Zahl 8 abzuschreiben. © PNAS
Als er bei einem der Versuche eine Styropor-Zahl, die Nummer 8, in den Händen hält, sagt er: „Das ist zu seltsam, um es mit Worten zu beschreiben“ (hier zu sehen, Video 2). Er versucht es dennoch und beschreibt ein wirres Durcheinander, wenn er die Zahl aufrecht hält. Rotiert er sie um 90°, erscheint ihm für eine kurze Zeit eine Maske, dann verschmilzt es wieder zu Chaos. Was er sieht und was er ertastet, kann er nicht in Einklang bringen.
So eine Wahrnehmungsstörung, auch Metamorphopsie genannt, kann durch Augenerkrankungen, neurologische und psychische Störungen ausgelöst werden. Doch es handelt sich hierbei offenbar um eine besondere Form, denn überraschenderweise erkennt RFS die Zahlen 0 und 1 ohne Probleme. Auch andere Symbole und Buchstaben scheinen ihm keine Schwierigkeiten zu bereiten.
Und das ist das Paradoxe an dem Fall, erklärt Michael McCloskey, einer der Hauptautoren des Berichts. Schließlich sieht ein großes B einer 8 sehr ähnlich, doch den Buchstaben erkennt RFS problemlos. Sein Gehirn muss also erkennen können, dass es sich bei einer 8 um eine Zahl handelt, die er dann aber nicht wahrnehmen kann. Wie macht sein Gehirn das?
Die Neurologen beschreiben das Problem mit den Zahlen so: Das visuelle Signal schafft es zwar von den Augen bis ins Gehirn. Doch sobald das Unterbewusstsein wahrnimmt, dass es sich um eine Zahl handelt, beginnt das Chaos. Die Information kann nicht mehr verarbeitet werden und läuft ins Leere – das Wissen taucht in seinem Bewusstsein nicht auf.
Ursache ist wohl seine degenerative Hirnerkrankung, die einen wichtigen Bereich beeinträchtigt hat, der der Verarbeitung von Zahlen dient. Dass er 0 und 1 noch erkennen kann, erklären sich die Forscher damit, dass diese Zahlen Assoziationen mit tiefverwurzelten Konzepten hervorrufen: Null steht für Abwesenheit und Eins für Einheit, weswegen sein Gehirn sie möglicherweise verarbeiten kann. Was genau in seinem Gehirn schiefläuft, können die Forscher zwar nicht eindeutig erklären. Das Problem von RFS zeigt den Neurologen aber andere spannende Einblicke in das Bewusstsein.
In einem Versuch schlossen sie ihren Patienten an ein EEG an und zeigten ihm eine Zahl, in der ein Gesicht versteckt war. Er gab an, das Gesicht nicht sehen zu können, doch im EEG zeigten sich die gleichen Hirnströme, unabhängig davon, ob das Gesicht allein gezeigt wurde oder innerhalb einer Zahl lag.
Sein Gehirn war also immer noch dazu in der Lage, ein Gesicht zu identifizieren – eine anspruchsvolle kognitive Fähigkeit – auch wenn sein Bewusstsein nichts davon wusste. Auch wenn es sich nur um einen einzigen Fallbericht handelt, zeigt das Defizit des Patienten, dass kognitive Verarbeitung auf hohem Niveau und Bewusstsein getrennt voneinander ablaufen könnten. Das eine lässt sich auch ohne das andere erreichen.
Die Zahlen 2 bis 9 kann der Patient zwar bis heute nicht sehen, aber dafür haben seine Neurologen eine Lösung gefunden: Sie erfanden Ersatzzahlen (z.B. ⌊ für 2, ⌈ für 8), die RFS seither benutzt.
Bildquelle: Sarang Pande/Unsplash