Im Kampf gegen COVID-19 geht es vielen mit der Impfstoff-Entwicklung nicht schnell genug. Deshalb haben Biotechnologen jetzt ein SARS-CoV-2-Vakzin gebaut. Ihre Testgruppe: sie selbst.
Wissenschaftler haben noch nie vor Selbstversuchen zurückgeschreckt. Wilhelm Conrad Röntgen testete seine später nach ihm benannten Strahlen am eigenen Körper. Und Max von Pettenkofer trank ein Glas voll mit Cholerabakterien, um zu beweisen, dass sie im gesunden Körper wenig Schaden anrichten. Ähnlichen Mut haben die US-Molekularbiologen George M. Church und Preston Restep bewiesen.
Kürzlich testeten sie einen nasalen Impfstoff gegen SARS-CoV-2, wie die MIT Technology Review berichtet. Ihr Ziel: Vakzine schneller verfügbar machen.
Das kam so: Estep schrieb eine E-Mail an Kollegen und ärgerte sich darüber, dass Experten der US-Regierung erst in 12 bis 18 Monaten mit Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 rechnen würden. So spät! Der Biologe fragte sich, ob ein Do-It-Yourself-Projekt (DIY) nicht schneller zu Ergebnissen führen würde. Er glaubte, dass es bereits – Stand März – genug Informationen über das neuartige Coronavirus gebe.
Prompt schlossen sich ein paar Molekularbiologen zusammen. Sie gründeten die Rapid Deployment Vaccine Collaborative, kurz RaDVac. Mit einigen der Enthusiasten hatte Estep schon beim Personal Genome Project (PGP) zusammengearbeitet, einer Open-Science-Initiative, die 2005 gegründet wurde, um die DNA aller Interessierten zu sequenzieren. Das war vor 15 Jahren noch eine Herausforderung.
Um ein Impfstoffdesign zu entwickeln, sichtete die Gruppe Studien über Vakzine gegen SARS und MERS, bekanntlich zwei eng verwandte Coronaviren. Das Ziel, sagt Estep, sei, „eine einfache Formulierung zu finden, die man mit leicht verfügbaren Materialien herstellen kann“. Man benötigt nur Pipetten, Reaktionsgefäße und Magnetrührer.
Anfang Juli veröffentlichte RaDVac dann ein Whitepaper mit Details – und mit einem umfangreichen juristischen Vorgeplänkel zum Haftungsausschluss. Die Biologen stellen in dem Papier einen Untereinheiten-Impfstoff (Subunit-Impfstoff) mit Fragmenten des viralen Spike-Proteins vor.
Proteine lassen sich anhand genetischer Daten von SARS-CoV-2 in vitro gut synthetisieren. Und das Prinzip, mit Subunit-Impfstoffen zu arbeiten, hat sich etwa bei Hepatitis B und beim humanen Papillomavirus (HPV) bewährt.
Zur Applikation wendete die Gruppe einen Trick an. Sie verkapselt ihr Protein mit Chitosan, einer Substanz aus Garnelenschalen. Die Nanopartikel können Schleimhäute passieren. Also wählten die Biologen die nasale Applikation und stellten ein Nasenspray her.
Sie wendeten das Nasenspray in zahlreichen Selbstversuchen an. Bisher hat die Gruppe nicht gesagt, ob ihr Impfstoff funktioniert. Sie haben keine Ergebnisse veröffentlicht, die zeigen, dass der Impfstoff zu neutralisierenden Antikörpern führt. Trotz des Mangels an wissenschaftlicher Evidenz haben die Biologen ihren Impfstoff auch Freunden und Kollegen zur Verfügung gestellt. Der Kreis Interessierter wächst.
Auf die Frage, wie riskant ihr Impfstoff sei, antwortete George Church, der zweite Biologe im Projekt: „Ich denke, wir sind einem viel größeren Risiko durch Covid ausgesetzt“ Und konkreter zu seinem Impfstoff: „Ich denke, das größere Risiko besteht darin, dass es unwirksam ist.“
Am Projekt scheiden sich die Geister: Manche sehen regelrecht eine Gefahr darin, wie etwa Arthur Caplan, ein Bioethiker am Langone Medical Center der New York University. Er sagte, er sehe „keinen Spielraum“ für Selbstversuche angesichts der Bedeutung der Qualitätskontrolle bei Impfstoffen. Stattdessen glaubt er, dass es ein hohes „Schadenspotenzial“ und eine „unbegründete Begeisterung“ gebe. Historisch interessierte Ärzte mögen sich an das Lübecker Impfunglück erinnern. Durch einen nicht geprüften BCG-Impfstoff starben 77 Kinder.
Ebenfalls kritisch sieht es ein Biotech-Manager aus Boston, der anonym bleiben möchte: „Estep ist ein guter Wissenschaftler, aber ich würde nicht tun, was er tut.“ Auch ihm hatten die Biologen den Impfstoff angeboten, aber er lehnte dankend ab.
Mit ihrer Aktion bewegen sich die beiden Biologen mit ihrer RaDVac-Gruppe auf dünnem Eis. Als zuständige Behörde fordert die US Food and Drug Administration (FDA) ein formales Genehmigungsverfahren. Kontakte zur FDA gibt es jedoch nicht – das hält Estep keineswegs für erforderlich.
Seine Begründung: Die Mitglieder der Gruppe stellen ihren Impfstoff selbst her beziehungsweise verabreichen ihn sich selbst. Außerdem wechselt kein Geld den Besitzer.
Bisher scheinen die Biologen Glück zu haben: Die Behörde hat jedenfalls noch nichts unternommen.
Die beiden Biologen sind mit ihrer Nasenspray-Idee natürlich nicht allein. Auch wenn die meisten Hersteller derzeit an injizierbaren Impfstoffen arbeiten, verfolgen auch andere die Idee, Vakzine über Schleimhäute zu applizieren. Hier eine Übersicht, zusammengestellt vom vfa:
Die Unternehmen sehen in ihrer Strategie einen großen Vorteil. Ein Nasenspray oder eine Tablette lässt sich auch ohne Arzt applizieren. Das ist wichtig, um weltweit möglichst viele Menschen zu erreichen. Ob es aber zu einer ähnlich starken Immunreaktion wie bei injizierbaren Vakzinen kommt, weiß man noch nicht. Die genannten Projekte befinden sich noch in frühen Entwicklungsstadien.Bildquelle: Julian Hochgesang, unsplash