Notleidende Menschen, die bei uns Asyl suchen, gelten für Politiker derzeit als große Herausforderung. Ärzte sind ebenfalls gefragt, um Menschen schnell zu helfen. Doch die Schwächen im System sind für ein medizinisch hoch entwickeltes Land wenig rühmlich.
Eine Flüchtlings-Zeltstadt in Dresden, überforderte Behörden in Berlin, marode Unterkünfte in vielen Kommunen, rechtsradikaler Krawall: Deutschland zeigt sich nicht gerade von seiner besten Seite. Immer wichtiger wird auch die Frage nach einer angebrachten medizinischen Versorgung der eintreffenden Menschen.
Krieg, Vergewaltigungen oder Folter fordern ihren Tribut. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) haben 40 Prozent aller Asylsuchenden seelisch belastende Situationen hinter sich gebracht. Wenig überraschend: Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) kommen zehn Mal häufiger vor als bei der Bevölkerung. Werden Traumafolgestörungen nicht frühzeitig behandelt, kommt es mitunter zur Chronifizierung. Gleichzeitig wächst die Gefahr für Depressionen oder Suchterkrankungen. Darüber hinaus leiden viele Menschen an Mangelerkrankungen, an schlecht verheilten Wunden oder an kariösen Zähnen. Die katastrophale hygienische Situation zieht häufig Magen-Darm-Erkrankungen nach sich. Chronische Erkrankungen haben sich vor allem während der Flucht verschlimmert. Um die Prophylaxe ist es ebenfalls schlecht bestellt – Impfungen liegen Jahre zurück. Für viele Menschen kommt nach ihrer Ankunft das böse Erwachen.
Im Rahmen ihres Asylverfahrens haben sie unter anderem das Recht auf eine Erstuntersuchung. Ziel ist, neben akuten Krankheiten mögliche Infektionen zu erkennen und deren Übertragungen zu vermeiden. Anschließend geht es weiter in die Unterkunft einer Kommune. Laut Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) müssen sich Flüchtlinge in den meisten Bundesländern erst einen Behandlungsschein ausstellen lassen, um medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sind die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen zu gewähren“, heißt es in Paragraph 4 AsylbLG. Durch das umstrittene Regelwerk sollen Gesundheitsausgaben augenscheinlich gering gehalten werden, um keine Anreize für die Asylsuche in Deutschland zu schaffen, vermuten NGOs. Gelingt es Behörden nicht, alle Eintreffenden rasch zu registrieren, bleiben sie unversorgt – wie Mitte August in Berlin geschehen. Oppositionsvertreter sprachen in diesem Zusammenhang mehrfach von Diskriminierung. Es geht aber nicht nur um ethische Fragen.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie befasst sich mit ökonomischen Aspekten der aktuellen Flüchtlingspolitik. Wissenschaftler aus Bielefeld und Heidelberg haben repräsentative Daten des statistischen Bundesamtes von 1994 bis 2013 analysiert. Ihr Ergebnis: Dürfen Asylsuchende ohne bürokratische Hürden und ohne Leistungseinschränkungen Allgemein-, Haus- sowie Kinderärzte aufsuchen, sind die Gesundheitsausgaben deutlich niedriger. Erst nach längerem Aufenthalt in Deutschland – derzeit 15 Monate, früher länger – bestehen entsprechende Möglichkeiten. Unter den Bedingungen eines gleichen Zugangs hätten Kosten um zirka 22 Prozent gesenkt werden können. Im Berichtszeitraum waren die jährlichen Pro-Kopf-Ausgaben für medizinische Versorgung bei Asylsuchenden mit eingeschränktem Zugang um zirka 40 Prozent (376 Euro) höher als bei Personengruppen mit Anspruch auf GKV-Leistungen. „Rationale, gesundheitswissenschaftliche Erkenntnisse und ethische Grundsätze müssen dringend stärker berücksichtigt werden“, kommentiert Dr. Kayvan Bozorgmehr, Autor der Publikation, seine Resultate.
Dass der Gesetzgeber Flüchtlingen nur eine Minimalversorgung zuteil werden lässt, stört Politiker, aber auch NGOs, schon seit Jahren. In Thüringen arbeiten SPD, Grüne und Linke an einem Vorschlag, um die – wie es heißt – diskriminierenden Praktiken zu beenden. Bis zur Umsetzung kann es aber dauern. Deshalb fordern Ärzte und Wissenschaftler pragmatische Lösungen. In Dresden versorgen nach anfänglichen Engpässen 200 freiwillige Helfer, darunter Ärzte, Medizinstudenten, Pflegekräfte und Hebammen, Menschen im Erstaufnahmelager. Bremen und Hamburg haben einen eigenen Weg gefunden. In den Stadtstaaten erhalten Asylsuchende ohne Wartezeit ihre Gesundheitskarte, und damit besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung. „Wir verlangen, dass jeder Mensch gleich und gleich gut behandelt wird“, so Professor Dr. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer. „Wir behandeln alle Menschen nach den gleichen Kriterien, und wir wollen allen die gleiche Qualität zukommen lassen.“ Bereits im Januar sagte eine Sprecherin von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), Bund und Länder prüften, ob sich das „Bremer Modells“ ausweiten lasse. Passiert ist seitdem recht wenig. Originalpublikation: Effect of Restricting Access to Health Care on Health Expenditures among Asylum-Seekers and Refugees: A Quasi-Experimental Study in Germany, 1994–2013 Kayvan Bozorgmehr et al.; PLoS ONE, doi: 10.1371/journal.pone.0131483; 2015