Die New York Times kritisiert Europas Pandemie-Politik aufs Schärfste. Warum das im ersten Moment überrascht, dann aber doch zum Nachdenken anregt.
Mit 4,4 Millionen Infizierten und 150.000 Toten (Stand: 28.07.2020) sind die USA nicht gerade ein Musterbeispiel des Krisenmanagements. Donald Trump führt solche Zahlen nur auf hohe Testraten zurück. Ein Strohhalm, nach dem er greift, denn im Umgang mit Corona sorgt der Präsident in regelmäßigen Abständen für negative Schlagzeilen. Dagegen wirkt Europa im Umgang mit der Pandemie wie ein Musterbeispiel. Doch Vorsicht: „Hochmut kommt vor dem Fall“, schreibt die New York Times über Europa. Diese Warnung liest sich erst überraschend. Aber bei näherem Hinsehen ist sie nicht falsch.
Vorab sei gesagt: In besagtem Artikel üben die Journalisten auch Kritik am US-Weg, die Krise zu bewältigen. Darum soll es in diesem Beitrag aber nicht gehen. Die Autoren kritisieren auch den europäischen Ansatz. Drei grundlegende Schwächen haben sie ausgemacht:
Der britische Epidemiologe Prof. Dr. Christopher John MacRae Whitty war sich vor zwei Jahren anlässlich eines Vortrags noch sicher, Reichtum bewahre ein Land vor Pandemien. Dazu zählen neben dem Gesundheitssystem auch hygienische Voraussetzungen, gute Wohnmöglichkeiten, sauberes Wasser und hochwertige Lebensmittel. Diese Rahmenbedingungen seien wirksamer als jedes Medikament, um Krankheiten zu stoppen, sagte Whitty.
Keine Einzelmeinung: Noch im Februar trafen sich Europas Gesundheitsminister in Brüssel, um über Hilfen für Entwicklungsländer zu sprechen, wenn auch nicht in Zusammenhang mit SARS-CoV-2. Wenige Wochen später waren Italien, Frankreich und weitere EU-Staaten mit ihrem eigenen Krisenmanagement überfordert. Schutzausrüstung wurde zur Mangelware. Es fehlten Beatmungsgeräte, und so manches Medikament ging zur Neige. Krankenhäuser stießen an ihre Grenzen. Mitunter wurden Patienten nur noch palliativ versorgt: eine noch vor sechs Monaten unvorstellbare Situation. Geld half den Ländern nicht weiter. Besonders kurios: Das finanzschwache Griechenland kam mit knapp 4.200 Infektionen und rund 200 Toten [Stand 27.07.2020] vergleichsweise gut durch die Krise.
Man darf europäischen Nationen nicht unterstellen, untätig gewesen zu sein. Regelmäßig wurden Pandemie-Pläne geschmiedet, revidiert und aktualisiert. Und die H1N1-Pandemie 2009/2010 ging an Europa recht spurlos vorüber. Befürchtungen statistischer Modellierer, es könnte zu einer Neuauflage der Spanischen Grippe kommen, erwiesen sich als haltlos. Daraus zogen Regierungen dann falsche Schlüsse. Alles schien halb so wild zu sein.
Man verringerte die medizinischen Bestände und rügte medizinische Experten wegen ihrer vermeintlichen Überreaktion. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass mache Artikel gar nicht physisch vorhanden waren. Vielmehr handelte es sich um „Just-in-time“-Lieferverträge mit China. Frankreich hatte beispielsweise 90 Prozent der tatsächlichen Bestände an Mund-Nasen-Schutz verringert.
Politiker begannen auch, Budgets zu kürzen. Das Gesundheitssystem litt – wenn auch von Land zu Land – verschieden stark unter dem Sparzwang. Kliniken wurden privatisiert und mussten ihre Effizienz steigern. Große Kapazitäten für den Ernstfall stellen plötzlich einen Luxus dar. Aber man berief sich auf mathematische Modelle zur Vorhersage von Pandemien, die sich aktuell als falsch erwiesen haben.
Im Artikel der New York Times gehen die Autoren mit Forschern hart ins Gericht und zwar am Beispiel Großbritanniens. Boris Johnson verließ sich auf britische Modellierer und verzögerte Shut-Downs um Tage bis Wochen, verglichen mit anderen EU-Staaten. Manche UK-Experten schätzen, dass frühere Einschränkungen 30.000 Menschenleben gerettet. Aktuell haben sich knapp 300.000 Menschen infiziert, und knapp 46.000 sind gestorben.
Nun trifft das Thema Wissenschaft nicht nur Großbritannien hart. Schweden hat im Unterschied zu nahezu allen EU-Staaten auf die weitgehende Eigenverantwortung von Bürgern gesetzt. Es gab praktisch kaum Restriktionen. Das führte zu knapp 79.000 Infektionen und knapp 6.000 Todesfällen [27.07.2020]. Mittlerweile räumt Anders Tegnell, Schwedens Chef-Epidemiologe, Fehler beim Management der Pandemie ein.
Aber auch in Deutschland hagelt es Kritik. Gesundheitsämter gerieten bei der Meldung von Infektionen in Verzug – teils aufgrund antiquierter Fax-Kommunikation, teils aufgrund fehlender Dienste am Wochenende. Das Robert-Koch-Institut wiederum war bei der Maskenpflicht anfangs recht zögerlich. Womöglich hätte eine frühere, mutige Entscheidung etliche Menschenleben gerettet, vermuten Experten.
Europa – mehr als eine Ansammlung zerstrittener Staaten?
Der Artikel macht deutlich, dass Europa trotz aller Kommissionen, Task Forces und Planungsgruppen weit davon entfernt ist, eine gemeinsame Linie zu haben. Vielmehr wurden Grenzen von Land zu Land geschlossen: eine Maßnahme, zu der man greift, wenn schon alles zu spät ist. Lockdowns oder die Pflicht, Masken zu tragen, wurden ebenfalls von Land zu Land unterschiedlich gehandhabt.
Auch gab es kaum zu Transporten von COVID-19-Patienten in andere Länder, von einzelnen Pilotprojekten mit geringen Patientenzahlen abgesehen. In Deutschland beispielsweise wären noch Kapazitäten vorhanden gewesen, um transportfähige Patienten zu verlegen. Als Fazit bleibt: Man sollte nicht mit dem Finger auf andere zeigen, doch ein Blick von außen kann auch wertvoll sein. Der Artikel der New York Times zeigt etliche Schwächen Europas auf. Ob wir daraus etwas lernen, ist eine andere Frage.
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