Elf Tage ohne Schlaf. Das ist der bisherige Rekord. Doch was passiert im Körper, wenn man nicht schläft? Teile des Gehirns schalten sich automatisch ab und verfallen in lokalen Schlaf – mit gefährlichen Konsequenzen. Manche Patienten können aber vom Schlafmangel profitieren.
Wie dringend der Körper Schlaf zur Regeneration benötigt, merkt man, wenn man eine Nacht durchmacht. Am nächsten Tag ist der Körper müde, die Konzentration gering und die Nerven angespannt. Dennoch steckt ein gesunder Mensch eine Nacht ohne Schlaf in der Regel ganz gut weg. Aber was passiert im Körper, wenn man über einen längeren Zeitraum nicht schläft?
Es ist durchaus möglich, deutlich länger am Stück nicht zu schlafen: Im Jahr 1963 blieb der 17-jährige Schüler Randy Gardner 11 Tage lang ununterbrochen wach – und erhielt dafür einen Eintrag ins Guinessbuch der Rekorde. Allerdings zeigte der Schlafentzug bei Randy, der während des Experiments auch von einem Schlafforscher untersucht wurde, schon nach wenigen Tagen deutliche Auswirkungen: Seine Konzentrations- und Gedächtnisfähigkeiten waren beeinträchtigt, er litt unter Orientierungs- und Gleichgewichtsstörungen, war gereizt und erlebte später auch Halluzinationen. Wegen dieser starken Beeinträchtigungen verzichtet das Guinessbuch inzwischen darauf, solche Rekorde aufzunehmen. Doch wie wirkt sich längerfristiger Schlafmangel im Einzelnen auf Gehirn, Körper und Stoffwechsel aus? Vor allem die Denkleistung und das Gemüt leiden unter dem Wachmarathon: In Experimenten und realen Situationen ließen sich Denk- und Konzentrationsstörungen, Gedächtnislücken, verlangsamte Reaktionen und eine vermehrte Reizbarkeit oder Lethargie beobachten. Länger anhaltende Schlaflosigkeit kann zu Halluzinationen und zu Störungen der Sprechfähigkeit und des Gleichgewichtssinns führen. Auch körperliche Beschwerden sind häufig: Insbesondere Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, zunehmende Erschöpfung und eine erhöhte Infektanfälligkeit. Ähnlich wie vollständiger Schlafentzug wirkt sich auch chronischer Schlafmangel ungünstig auf die Gesundheit aus. Eine US-amerikanische Studie hatte herausgefunden, dass eine verkürzte Schlafdauer das Risiko an Typ-2-Diabetes zu erkranken, erhöht. Schliefen Probanden weniger als 6 Stunden war das Risiko um 2,5-fache erhöht – verglichen mit Probanden, die 7 bis 8 Stunden schliefen. Eine Schlafdauer von weniger als 7Stunden soll laut einer weiteren Studie auch das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen erhöhen.
Wie das Immunsystem unterliegt auch der Hormonhaushalt einem 24-Stunden-Rhythmus. Dieser wird durch den Schlafmangel massiv gestört. „Das betrifft zum Beispiel das Wachstumshormon, das nicht nur für das Wachstum, sondern auch für die Regeneration von Muskeln und Knochen wichtig ist“, sagt Penzel. „Aber auch die Ausschüttung von Cortisol, die vor allem in der zweiten Nachthälfte stattfindet, ist gestört. Das führt dazu, dass man bei einem Schlafdefizit quasi permanent unter Stress steht.“ Ein erhöhter Cortisolspiegel wirkt sich außerdem ungünstig auf den Stoffwechsel aus und kann zu Bluthochdruck, Herzerkrankungen und Diabetes beitragen. Auch andere durch Schlafmangel gestörte Stoffwechselprozesse könnten zur Entstehung von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen beitragen. „Unsere Studien haben gezeigt, dass der Blutzucker bei chronischem Schlafentzug länger erhöht bleibt und die Zellen weniger sensitiv für Insulin sind“, berichtet David Elmenhorst, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neurowissenschaften und Medizin des Forschungszentrums Jülich. „Diese Veränderungen könnten das Diabetesrisiko erhöhen.“ Mit seiner Arbeitsgruppe untersucht Elmenhorst, welche molekularen Veränderungen bei Schlafentzug im Körper, aber auch im Gehirn auftreten.
„Tierexperimentelle Studien haben ergeben, dass der Spiegel des Moleküls Adenosin, das dämpfend wirkt, bei langfristigem Wachsein ansteigt“, erläutert Elmenhorst. „Während des Schlafens sinkt der Spiegel dann wieder ab.“ Der Wissenschaftler und sein Team haben in Untersuchungen bei Menschen beobachtet, dass die Dichte der Adenosin-Rezeptoren im Gehirn bei Schlafentzug ansteigt und bei anschließendem Schlaf wieder auf das ursprüngliche Niveau zurückgeht. „Wir vermuten, dass sowohl Adenosin als auch die Dichte der Adenosin-Rezeptoren für den Schlafdruck verantwortlich sind, der mit längerer Wachheit immer mehr zunimmt“, so Elmenhorst. „Die Ergebnisse könnten die verschiedenen Auswirkungen von Schlafentzug wie Müdigkeit, Mikroschlaf-Episoden, verlangsamte Reaktionszeit und fehlerhafte Reaktionen erklären.“
So holt sich der Körper in gewisser Weise den Schlaf, den er braucht – selbst in den Phasen, in denen man vermeintlich ununterbrochen wach ist. „Bei längerfristigem Schlafentzug kommt es immer wieder zu Mikro- oder Sekundenschlaf-Attacken – der Betroffene schläft quasi mit offenen Augen“, berichtet Penzel. „Weiterhin lässt sich 'lokaler Schlaf' beobachten, das heißt, dass Teile des Gehirns schlafen bzw. abschalten, während andere wach sind. Solche Mini-Schlafattacken seien sehr gefährlich, betont der Forscher: etwa beim Autofahren oder bei Tätigkeiten, bei denen konzentriertes Arbeiten notwendig ist. Mikroschlaf-Episoden wurden auch bei Randy Gardner und bei Probanden in den USA beobachtet, die unter kontrollierten Bedingungen drei Tage lang wach blieben. In beiden Versuchen mussten die Teilnehmer durch ständige Reize wachgehalten werden – von alleine wären sie nicht wach geblieben.
Wie lange man wach bleiben kann, ohne körperliche oder psychische Auswirkungen zu bemerken, ist individuell sehr unterschiedlich. „Eine Grenze, ab wann Beeinträchtigungen auftreten, lässt sich nicht angeben“, sagt Penzel. „Das hängt von der Veranlagung und bis zu einem gewissen Grad auch von Training ab.“ So verkraften sogenannte Kurzschläfer – Menschen, die insgesamt wenig Schlaf benötigen – Schlafentzug besser als Menschen, die von Natur aus mehr Schlaf brauchen.
Während Schlafentzug sich meist früher oder später ungünstig auswirkt, kann er in manchen Fällen auch positive Effekte haben: nämlich bei Patienten mit Depressionen. So verbessert kurzzeitiger Schlafentzug bei mehr als der Hälfte der Patienten bereits am nächsten Tag die Stimmung deutlich. Eine Schlafentzugstherapie wird in der Regel in der stationären Behandlung unter Überwachung durchgeführt wird. Dabei bleiben die Teilnehmer eine Nacht lang oder nur in der zweiten Nachthälfte wach. Anschließend kann der Effekt durch die so genannte Schlafphasenvorverlagerung einige Tage aufrecht erhalten werden: Die Patienten gehen dabei früher ins Bett und stehen auch früher wieder auf (z. B. Schlafzeit von 17 bis 0 Uhr). Wie der stimmungsverbessernde Effekt zustande kommt, ist bisher nicht genau verstanden. Studienergebnisse legen nahe, dass durch den Schlafmangel vermehrt Serotonin ausgeschüttet wird, das stimmungsaufhellend wirkt – ein ähnlicher Effekt wie bei Antidepressiva, die die Konzentration der Botenstoffs im Gehirn erhöhen. Weiterhin lässt sich bei Depressionen häufig ein gestörtes Schlafmuster beobachten: So tritt die erste REM-Phase im Schlafverlauf früher auf als bei Gesunden und dauert länger an. Außerdem ist der Anteil an REM-Schlaf erhöht. Diese Veränderungen könnten zur depressiven Symptomatik beitragen. „Durch den Schlafentzug, insbesondere in der zweiten Nachthälfte, fällt der vermehrte REM-Schlaf weg“, erläutert Penzel. „Darüber hinaus wird auch die vermehrte Ausschüttung des Stresshormons Cortisol unterbunden.“ Aus Tierexperimenten gibt es Hinweise, dass bei Depressionen auch der Neuaufbau von Synapsen zwischen den Nervenzellen und damit die Lernfähigkeit eingeschränkt ist. „Studien weisen darauf hin, dass auch bei Menschen mit Depressionen die Lernfähigkeit reduziert ist. Nach Schlafentzug normalisiert sie sich jedoch wieder“, berichtet Elmenhorst. „Es könnte daher sein, dass sich durch Schlafentzug auch der Aufbau neuer Nervenzellverbindungen wieder normalisiert. Das könnte wiederum zur Normalisierung der Stimmung beitragen.“ Das seien allerdings bisher nurVermutungen. „Wenn man jedoch die physiologischen Auswirkungen des Schlafentzugs besser verstanden hat, könnte das dazu beitragen, neuartige Behandlungsansätze gegen Depressionen zu entwickeln“, betont der Forscher. Allerdings habe Schlafentzug auch bei Depressiven deutliche Auswirkungen auf Körper und Psyche, etwa Schläfrigkeit oder Kopfschmerzen, so Penzel. Deshalb werde die Behandlung auch nur über einen kurzen Zeitraum durchgeführt. Zudem geht der positive Effekt verloren, sobald die Betroffenen wieder schlafen – sogar, wenn sie nur ein kurzes Nickerchen halten.
Ein gewisser Schlafmangel ist in unserer Gesellschaft fast schon Normalität. „Viele von uns sind es gewohnt, unter der Woche kürzer und am Wochenende länger zu schlafen, so dass sie jede Woche ein leichtes Schlafdefizit aufbauen“, sagt Penzel. „Damit kommen die meisten Menschen jedoch zurecht, ohne Beeinträchtigungen zu bemerken.“ Der Schlafforscher empfiehlt, dass jeder Mensch so gut es geht seine individuelle Schlafdauer einhalten sollte.