Nach sechs Monaten harter Arbeit auf der Intensivstation beibt bei mir vor allem eins: ein Gefühl der Sinnlosigkeit und Resignation. Möchte ich überhaupt Ärztin sein?
Sechs Monate auf der Intensivstation liegen hinter mir. Schon zu Beginn war meine Begeisterung hier nicht besonders groß. Zuletzt hat mich die Arbeit in eine regelrechte Sinnkrise gestürzt.
Zunächst wurde ich fantastisch eingeführt durch eine nette Kollegin von der Inneren, die bereits seit mehreren Monaten auf der IPS gewesen war und auch fachlich unglaublich viel drauf hatte. Von ihr konnte ich sehr viel lernen, sie hatte immer ein Ohr für mich und eine Engelsgeduld.
Es machte mir sogar erst Freude, meine eigenen Fortschritte zu sehen. Nach zwei Jahren auf der Anästhesie im kleinen Haus (mit begrenztem Leistungsangebot) war die Lernkurve zum Schluss deutlich abgeflacht und Routine hatte sich eingestellt. Auf der IPS fühlte ich mich stärker gefordert und gelegentlich überfordert, schließlich war ja alles neu und meine internistischen Kenntnisse recht beschränkt.
Je länger ich dort war, desto mehr Freiheiten bekam ich. Die Ober- und leitenden Ärzte, die nachts und am Wochenende für mich zuständig waren, lernten mich und meine Fähigkeiten besser kennen und einzuschätzen. Man schien zufrieden mit mir. Klagen hörte ich keine, nur das gelegentliche „Ach, du bist da? Prima. Du kannst das ja allein.“ Das gab mir Selbstvertrauen und bereitete mir Freude, zumal ich ja wusste, dass ich, wenn nötig, trotzdem jederzeit mit ihrer Hilfe rechnen konnte.
Nach etwa drei Monaten wollte ich mein Logbuch nachtragen. Darin habe ich alle Interventionen notiert, die ich gemacht habe: arterielle und zentralvenöse Zugänge, Dialysekatheter, Intubationen und so weiter. Die Liste erschien mir etwas kurz, deshalb ging ich die Bettenbelegungliste der letzten drei Monate durch und schaute in die Akten einzelner Patienten, die ich betreut hatte, um nachzuschauen, ob ich eventuell vergessen hatte, etwas zu dokumentieren.
Was ich dabei las, erschütterte mich: Die meisten meiner ehemaligen Patienten waren tot. Verstorben auf Station, zu Hause, im Pflegeheim, irgendwo, irgendwann danach. Das hätte mich eigentlich nicht erstaunen dürfen, IPS-Patienten haben eine erhöhte Mortalität. Die sind ja schließlich aus einem guten Grund da. Bei manchen geht es darum, sie zu stabilisieren, sodass sie noch Abschied nehmen können. Gelegentlich ändern sich im Verlauf die Therapieziele, wenn jemand merkt, was „Intensivstation“ und „alles machen“ wirklich bedeutet und die Patienten überlegen sich, dass sie das lieber nicht nochmal möchten. Aber die schiere Anzahl verstorbener Patienten, die sich mir darbot, erstaunte und deprimierte mich. Ich begann, mir ernsthaftere Gedanken darüber zu machen, was ich denn hier eigentlich tat.
Je länger ich hier arbeitete, desto weniger sah ich den Sinn hinter meiner Tätigkeit. Muss man jetzt diesen Patienten wirklich intubieren? Muss man jene Patientin noch mit Schläuchen quälen? Ist diese Chemotherapie überhaupt noch sinnvoll? Ich sah, wie viel Geld in Patienten investiert wird, ohne Aussicht auf Verbesserung der Lebensqualität, nur zur Lebensverlängerung. Wahrscheinlich habe ich das massiv überbewertet, sah, gemäß dem selbsterfüllenden Prophezeiungsprinzip, nur noch das Negative. Wahrscheinlich war es gar nicht so schlimm und vielleicht sah ich einfach nur das, was ich sehen wollte.
Das war aber nicht das einzige Problem. Im Krankenhaus sind wir alle nur noch darauf getrimmt, aufs Geld zu achten. Wir fällen Entscheidungen nicht mehr nur danach, was am Besten für den Patienten ist, sondern suchen einen Kompromiss, sodass die Behandlung auch günstig und finanziell gut fürs Haus ist.
Nicht so auf der Intensivstation: Hier wird mit Untersuchungen und hochteuren Medikamenten nur so um sich geschmissen – und das oft für nichts, grundlos, sinnlos. Ja, Patienten, die wegen jedem Blödsinn in die Notaufnahme rennen statt zum Hausarzt, kosten uns Geld – aber noch viel, viel mehr Geld kostet uns der 95-Jährige mit der Rippenserienfraktur, der noch im vegetativen Zustand drei Wochen auf der Intensivstation rumliegt, weil seine Angehörigen nicht Abschied nehmen können.
Mit der zunehmenden (subjektiv wahrgenommen) Sinnlosigkeit schwand auch meine Motivation, meine Begeisterung, mein Interesse. Ich tat, was nötig war, und natürlich unverzüglich und so gut ich konnte, aber ich begann, Entscheidungen anzuzweifeln. Ich schlief schlechter, war nur noch müde, erkannte mich selbst kaum wieder, wenn ich mich reden hörte: Ich war schon immer ein eher zynischer Mensch, aber ich war eigentlich auch freundlich, herzlich, geduldig. Jetzt nicht mehr.
Bevor ich wirklich nicht mehr konnte – und im Nachhinein war ich davon wohl gar nicht mehr so weit weg – waren die sechs Monate vorbei. Vorsorglich hatte ich mir eine kleine Auszeit eingeplant, bevor ich meine nächste Stelle antreten würde, und ich hatte die Auszeit bitter nötig.
Lange brütete ich vor mich hin und stellte mir existenzielle Fragen: Will ich Ärztin sein? Will ich eine kleine Spielfigur in diesem kranken System sein? Fremdbestimmt durch Politiker und Ökonomen?
Die Antwort habe ich mir bis heute noch nicht geben können, doch ich habe den Entschluss gefasst, zumindest meine Facharztausbildung abzuschließen. Dann schaue ich weiter.
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