Die häufigste degenerative Erkrankung der Motoneurone gibt noch so manches Rätsel auf und spornt den Entdeckergeist der Wissenschaft an. Aktuelle Untersuchungen liefern neue Erkenntnisse zur Pathophysiologie der ALS. Zudem rückt die Stammzelltherapie verstärkt in den Fokus.
Laut einer kürzlich in JAMA Neurology veröffentlichten Studie fällt die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) bereits vor der Diagnose durch einen erhöhten Ruheenergiebedarf auf. Wie das niederländische Forscherteam um den ALS-Experten Prof. Jan Veldink anhand eines 199 unterschiedliche Nahrungsmittel umfassenden Fragebogens zu den Ernährungsgewohnheiten ermittelte, wiesen die 674 neu an der ALS erkrankten Patienten bereits vor der Diagnose einen im Vergleich zur Kontrolle niedrigeren Body-Mass-Index (BMI) auf. Die durchschnittliche Kalorienzufuhr der Betroffenen lag zu diesem Zeitpunkt jedoch deutlich höher als bei den 2.093 gesunden Probanden. Das tägliche Energieplus kam insbesondere durch fettige Speisen, genauer gesättigte Fettsäuren, Trans-Fettsäuren und Cholesterin zu Stande. Veldink betrachtet dies als möglichen Ausdruck einer häufig diskutierten mitochondrialen Funktionsstörung. Schon länger wird versucht, dem hypermetabolen Charakter der ALS auf die Spur zu kommen. Doch die Autoren betonen: „Es bleibt unklar, ob dieser Umstand ein Teil der Ereigniskette während der Krankheitsentstehung oder ein sekundäres Phänomen ist.“ Davon abgesehen untermauere die Studie in Anbetracht ähnlicher Ergebnisse im Mausmodell aber die Hypothese, dass der Energiehaushalt bereits in der präsymptomatischen Phase der ALS Veränderungen zeigt.
Insbesondere in fortgeschrittenen Stadien der ALS kommt es häufig zu Gewichtsverlust, der mit einer Steigerung des Grundumsatzes in Verbindung stehen könnte. Eine Arbeitsgruppe des Massachusetts General Hospitals in Boston ging diesem Zusammenhang vergangenes Jahr mit einer kleinen Phase-II-Studie [Paywall] auf den Grund. Dafür untersuchten sie 20 Betroffene, die bereits unter einem starken Gewichtsverlust litten. Während die Kontrollgruppe die übliche Sondennahrung erhielt, wurde bei den beiden anderen Gruppen der Tageskalorienbedarf durch einen zusätzlichen Fett- bzw. Kohlenhydratanteil auf 125 % erhöht. „Diese Strategie wurde noch nie zuvor bei der ALS getestet“, sagt Erstautorin Dr. Anne-Marie Wills. Nach vier Monaten bot die kohlenhydratreiche Ernährung die besten Resultate: Keiner der Probanden war aufgrund unerwünschter Ereignisse ausgestiegen, zudem zeigte sich eine leichte Gewichtszunahme. Die Teilnehmer mit erhöhtem Fettanteil in der Sondennahrung hatten jedoch weiter Gewicht verloren. Trotzdem ereignete sich während der fünfmonatigen Nachbeobachtung insgesamt nur ein Todesfall bei den hochkalorischen Varianten, in der Kontrollgruppe waren es hingegen drei. „Wir glauben, dass es sich dabei um eine neue, effektive und kostengünstige Therapieoption für diese verheerende Erkrankung handeln kann“, verkündet Wills und drängt nun auf eine größere Phase-III-Studie.
In Ansätzen haben derlei Erkenntnisse ihren Weg auch schon in die Empfehlungen der Fachgesellschaften gefunden. Die aktuellen Leitlinien identifizieren den Ernährungszustand längst als unabhängigen Risikofaktor für das Überleben. Katabole Situationen seien daher zu vermeiden, zum Beispiel mit Hilfe einer Ernährungsberatung. In fortgeschrittenen Stadien verhindere die Anlage einer perkutanen Gastrostomie (PEG) das Auftreten des prognostisch negativen Katabolismus und sei mit einer besseren Lebensqualität und längerem Überleben verbunden – insbesondere bei Beachtung spezifischer Ernährungsstrategien. Ersten Hinweisen zufolge könne eine hochkalorische Ernährung dabei von Vorteil sein, heißt es dort. Trotz alledem handelt es sich hierbei lediglich um symptomatische Behandlungsoptionen, wie sie die Therapie der ALS ohnehin seit jeher beherrschen – krankheitsmodifizierende Ansätze schaffen es kaum zur Empfehlungsreife. Einzig der Natriumkanalblocker Riluzol konnte seine neuroprotektive Wirkung in randomisierten, kontrollierten Studien gleich mehrfach unter Beweis stellen. Je nach Studie und gewählter Dosis – aktuell liegen die Empfehlungen bei zweimal 50 mg täglich – erhöhte Riluzol die Überlebenswahrscheinlichkeit für das erste Therapiejahr um 6,5 % bis 12,1 %. Auf der Grundlage retrospektiver Analysen großer Datenbanken liege der lebensverlängernde Effekt somit zwischen 6–20 Monaten.
Der Schlüssel zu weiteren und wirksameren Behandlungsmethoden liegt nach wie vor in der bisher kaum verstandenen Pathophysiologie der ALS. Die jüngste Vergangenheit [Paywall] hat gezeigt, dass sich hinter der ALS eine heterogene Gruppe von molekularen Pathomechanismen verbirgt, die Verbindungen zu anderen neurodegenerativen Erkrankungen aufweisen. Dafür spricht die wachsende Zahl ursächlich in Frage kommender Genmutationen, die sich sowohl für sporadische (sALS) als auch familiäre Fälle (fALS) verantwortlich machen und die Grenzen dieser Klassifikation dadurch zunehmend verschwimmen lassen. Die bisherige Einteilung der ALS wird der tatsächlichen Komplexität also kaum gerecht. Lange Zeit drehte sich dabei vieles um Genmutationen der Cu/Zn-Superoxiddismutase-1, die weiterhin für rund 20 % der fALS und 5 % der sALS verantwortlich gemacht werden. Weitaus häufiger ist mit einem Anteil von 40 % der fALS und 20 % der sALS jedoch die neu entdeckte C9ORF72-Mutation, bei der es sich um einen Hexanukleotid-Repeat handelt, der laut neuesten Erkenntnissen eine Konformationsänderung der DNA [Paywall] sowie axonale Ionenkanaldysfunktionen [Paywall] zur Folge hat. Von diagnostischem und therapeutischem Interesse ist diese Mutation insbesondere deshalb, weil ihre Häufung bei der frontotemporalen Demenz die ALS eher als Multisystem- denn als rein neuromuskuläre Erkrankung entlarvt.
Wo die Zukunft der Therapie neurodegenerativer Erkrankungen wie der ALS liegt, bleibt vorerst ungewiss. Zuletzt erwiesen sich jedoch gleich mehrere Konzepte in Phase-I-Studien [Paywall] als durchaus vielversprechend. Dazu gehört beispielsweise die Förderung des axonalen Wachstums mit gegen das wachstumsinhibierende Nogo-Protein gerichteten Antikörpern, deren Wirksamkeit nun in einer internationalen Studie untersucht wird. Darüber hinaus scheint auch eine Modulation der Genexpression potenziell möglich zu sein. Dafür kommen intrathekal applizierte Antisense-Oligonukleotide zum Einsatz, die an die mRNA-Transkripte der mutierten Gene binden und deren Abbau durch intranukleäre RNasen bewirken. Für viele beherbergt jedoch die Stammzellforschung die einzig wahre Lösung auf der Suche nach wirksamen Therapien für die ALS. Im Gegensatz zu den anfänglichen Traumvorstellungen von der Zucht brandneuer Motoneurone favorisieren präklinische Modelle [Paywall] aktuell die sogenannte Nachbarschafts-Theorie, bei der die Stammzellen (SZ) die erkrankten Motoneurone durch lokale Prozesse unterstützen, beispielsweise Entzündungshemmung oder Wachstumsfaktorausschüttung. Für diese Zwecke werden vor allem induzierte pluripotente SZ ins Auge gefasst, da sie sich aus Zellen des Patienten gewinnen lassen und auf diese Weise keine ethischen Fragen aufwerfen. Doch bis heute ließ sich nur bei einer Handvoll klinischer Studien eine Kontrollgruppe implementieren, denn die einzigen verlässlichen Methoden zur Applikation der SZ sind die direkte intrakortikale oder intraspinale Injektion. Da auch noch keine klinisch verwendbaren Biomarker verfügbar sind, lässt sich bisher kaum eine Aussage zur Wirksamkeit der SZ-Therapie machen. Der ALS-Forscher Dr. Stephen Goutman [Paywall] von der University of Michigan ist jedoch davon überzeugt, dass sich das Blatt schon bald wenden könnte: „Jetzt ist die Zeit, in der wissenschaftliche Innovation, Biotechnologie und medizinische Expertise eine Schwelle erreicht haben, die es uns erlaubt, die SZ-Therapie für die ALS zu verwirklichen.“