Patienten, die stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen, OP-Pläne ohne Atempause – Pflegefachkraft Jana Langer kritisiert Missstände und Personalmangel in Kliniken. Auch bei Kollegen wächst die Wut. Jens Spahn reagiert auf Langers offenen Brief, bleibt aber unverbindlich.
Konflikte hat Jana Langer (46) noch nie gescheut. Sie ist Fachkrankenschwester im OP. Bereits vor einem Jahr forderte sie in einem offenen Brief Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf, Missstände in der Pflege zu beheben. Sie wurde zur Polit-Talkshow „Hart aber fair“ eingeladen und bald darauf vom Arbeitgeber vorgeladen. „Die Chefs waren von meiner Meinung über unser Gesundheitssystem wenig begeistert“, erzählt Langer. Davon ließ sich Jana Langer aber nicht abschrecken. Über Facebook meldete sie sich jetzt auch beim neuen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit einem offenen Brief, um ihn über die Arbeitsbedingungen vor Ort zu informieren. Auszug aus dem Brief an Jens Spahn (CDU), Screenshot Facebook DocCheck sprach mit Langer über ihre Erlebnisse im Krankenhaus. „Ich selbst habe vor allem die Entwicklung im OP-Bereich mitverfolgt“, erzählt sie. „Es wird immer mehr operiert, der Zeitdruck wächst, und die OP-Pläne lassen keine Atempause mehr zu.“ Auch im personellen Bereich haben sich grundlegende Dinge verändert: „Früher waren fast immer drei Fachkräfte im OP-Saal, heute hat sich das auf zwei Kräfte reduziert, wobei eine davon meist Schüler oder auch Hilfskräfte sind.“ Gleichzeitig komme es im ärztlichen Bereich zu „grenzwertigen Situationen“: „Ein unerfahrener Assistenzarzt ist nachts oft allein für einen Bereich zuständig. Ohne erfahrenes Fachpersonal lassen sich Fehler nicht ausschließen.“ Oberärzte hätten meist Rufbereitschaft, seien aber nicht als erste Ansprechpartner vor Ort. „Und bei menschlich schwierigen Vorgesetzten scheuen sich Assistenzärzte, ihren Chef zu benachrichtigen.“
Ähnliche Missstände häufen sich auf Stationen in allen Einrichtungen des ganzen Landes. Als Personalrätin bekommt Langer mehr mit, als ihr lieb ist. Ihre Kollegen informieren den Arbeitgeber regelmäßig per Überlastungsanzeige, dass Gefahren für sie selbst oder für Patienten bestehen. Diese Maßnahme ist im Arbeitsschutzgesetz, § 15 und § 16, verankert. „Früher waren das eher Einzelfälle. Mittlerweile schreiben Pflegekräfte beispielsweise, dass Medikamente nicht zur ärztlich angeordneten Uhrzeit verabreicht werden konnten.“ Gerade z.B. bei Chemotherapien sei es extrem wichtig, Medikationspläne korrekt einzuhalten und beispielsweise entwässernde Medikamente zeitgenau einzusetzen. „Ich lese auch immer wieder Berichte, dass keine Körperpflege durchgeführt werden konnte oder dass Patienten mehrere Stunden in ihren Ausscheidungen lagen.“ Laut Langer handelt es sich um keine Einzelfälle: „Bundesweit findet man solche Berichte, die wirklich erschrecken.“ Sie warnt eindringlich davor, Betten machen, Essen anreichen oder ähnliche Tätigkeiten auszulagern, wie von Gesundheitsökonomen teilweise gefordert. „Das ist Zeit, die wir für Patienten haben, um beispielsweise die Haut anzusehen, die psychische Verfassung zu erkennen oder physische Auffälligkeiten wie starkes Schwitzen zu erfassen. Diese elementaren Dinge melden wir Ärzten als mögliche Hinweise auf Komplikationen beziehungsweise können sofortige Maßnahmen ergreifen."
Diskussionen um Personalschlüssel gab es in Krankenhäusern zwar schon immer. Deutlich spürbare Einschnitte begannen mit der Einführung diagnosebezogener Fallgruppen (DRGs). Zuvor wurden stationäre Krankenhausleistungen zu 80 Prozent über Pflegesätze und zu 20 Prozent über Fallpauschalen abgerechnet. „Plötzlich begannen viele Kliniken, pflegeferne Aufgaben wie Transport oder Reinigung outzusourcen“, erzählt die Fachkrankenschwester. Hinzu kam der Trend zur Privatisierung. Zwischen den Jahren 2000 (844 Häuser) und 2016 (570) ging es mit öffentlichen Kliniken stark bergab. Ähnlich war der Trend bei freigemeinnützigen Krankenhäusern (912 versus 674). Im gleichen Zeitraum schnellte die Zahl privater Einrichtungen stark nach oben (486 versus 707). Damit sei auch der Druck, gute Zahlen abzuliefern gestiegen. Langer: „Kommt ein Patient mit Hypertonie in eine Klinik mit Herzkatheterlabor, dann wird nicht lange nach Ursachen gesucht, sondern gleich mal eine entsprechende Untersuchung durchgeführt.“ Die ganzheitliche Medizin werde durch gewinnbringende Eingriffe ersetzt. „Namhafte Großkonzerne verdienen sich eine goldene Nase. Ich finde es unmoralisch, wenn sich Aktionäre am Leid kranker Menschen bereichern.“ Deshalb fordert Langer: „Die medizinische Fürsorge gehört wieder in öffentliche Hände, nicht in private.“ Ihr ist klar, dass Privatisierungen kaum rückgängig zu machen sind. Damit bleibt noch Plan B, sprich mehr Fachkräfte vor Ort.
Langer: „Ein starrer Personalschlüssel wäre in Pflegeheimen eher möglich, da die Bewohner in der Regel längerfristig betreut werden.“ Bei Kliniken kann sie sich eine Mindestbesetzung je nach Art der Station vorstellen. Zusätzlich sollte Personal vorgehalten werden, um je nach Auslastung in der Pflege zu arbeiten. „Angestellte könnten in anderen Bereichen abseits der Patientenversorgung arbeiten, aber bei Engpässen sofort einsetzbar wären.“ Einrichtungen seien angesichts zusätzlicher Ausgaben sicher nicht begeistert. „Bei der Feuerwehr stellen wir auch nicht erst Leute ein, wenn es brennt oder wenn Unfälle geschehen. Niemand diskutiert über Vorhaltekosten.“ Mitarbeiter würden jenseits der Brandbekämpfung zahlreiche Arbeiten übernehmen, stünden im Notfall aber sofort zur Verfügung. Davon könne man viel lernen.
Mittlerweile ist die Botschaft in Berlin angekommen. Laut Koalitionsvertrag wollen CDU/CSU und SPD als Sofortmaßnahme 8.000 zusätzlichen Pflegestellen für Altenpflegeeinrichtungen schaffen. Die Maßnahme klingt vielversprechend, hat aber gleich mehrere Haken. Wie das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung herausfand, fehlen mittelfristig 17.000 und langfristig sogar 50.000 Fachkräfte. Spahn plant, Fachkräfte im Ausland zu rekrutieren. Langer zweifelt am Erfolg: „Andere Nationen bilden Fachkräfte für die Pflege vier Jahre lang aus – diese sind auf einem extrem hohen Wissensniveau.“ Sie erzählt, mehrere Kollegen aus Spanien hätten angesichts der Zustände nach einer Woche in Deutschland das Handtuch geworfen. Die Ausbildung läuft bei uns auch nicht rund: „In den Prüfungen fallen viele Schüler durch – unter anderem, weil sie auf den Stationen zu wenig lernen.“ Pflegekräften fehle Zeit, auszubilden, und Schüler würden nicht selten als Ersatz für fehlendes Personal herangezogen. Das seien wichtige Gründe für ihren offenen Brief an Jens Spahn gewesen.
Jens Spahn richtet sich via Videobotschaft an Jana Langer, Screenshot Facebook Nachdem die Facebook-Community Jana Langers Beitrag mehr als 73.000 Mal geteilt und 11.000 Mal kommentiert hat, sah sich der Christdemokrat unter Zugzwang. In seinem Videoblog greift er Aspekte wie mehr Personal oder eine bessere Honorierung auf: „Genau daran wollen wir arbeiten.“ Der Gesundheitsminister spielt klar auf Zeit: „In ein oder zwei Jahren“ werde sich etwas ändern. Jana Langer wird ihn zu gegebener Stunde an seine Versprechen erinnern, aber bis dahin weiterhin den Finger in die Wunde legen.