In einem offenen Brief wenden sich 239 Experten an Gesundheitsbehörden weltweit: Darin fordern sie, Aerosole als Übertragungsweg des COVID-19-Erregers offiziell anzuerkennen. Doch daran gibt es Zweifel.
Einig ist man sich darüber, dass SARS-CoV-2 in den Aerosolwolken, die beim Atmen und Sprechen entstehen, über einen längeren Zeitraum durch die Luft schweben kann. In geschlossenen Räumen und ohne ausreichende Ventilation können das einige Stunden sein, zeigen experimentelle Studien.
Für die 239 Unterzeichner eines offenen Briefs an Gesundheitsbehörden weltweit ist dies das wichtigste Argument, das für die aerosolbasierte Übertragung als einer der Hauptübertragungswege spricht. Sie führen die größeren Infektionsausbrüche in Restaurants und bei Chorproben auf ebensolche Aerosolwolken zurück. Mit der üblichen Tröpfcheninfektion ließen sich diese Fälle nämlich nicht erklären.
Die Mediziner um Michael Klompas nennen die größeren Infektionscluster in geschlossenen Räumen aber nur Ausnahmen und keinesfalls die Regel, schreiben sie in ihrer Veröffentlichung in JAMA. Die virusbeladenen Aerosole, ausgestoßen von einer infizierten Person, könnten sich in geschlossenen Räumen zwar tatsächlich ansammeln und zu einer Ansteckung führen. Das schließen die Autoren keinesfalls aus. Doch das beweise nicht, dass das Virus in vielen Fällen über Aerosole übertragen wird – es sich also um einen Hauptübertragungsweg handelt. Eine alternative Erklärung bietet auch die Tröpfchentheorie: Experimente mit markierten Phagen hätten gezeigt, dass sich die Phagen ausgehend von einer kontaminierten Türklinke innerhalb von 7 Stunden in einem ganzen Bürogebäude verteilen können.
Folgende Gründe führen die Mediziner an, die gegen eine vornehmlich aerosolbasierte Übertragung über größere Distanzen von SARS-CoV-2 sprechen:
Die Reproduktionszahl ist zu klein. Bei COVID-19 liegt sie – ähnlich wie Influenza – bei etwa 2,5. Diese Zahl ist relativ klein, nimmt man an, dass SARS-CoV-2-Infizierte über eine Woche ansteckend sind und in dieser Zeit ihre virusbelandenen Aerosole überall verteilen könnten. Bei Masern, die bekanntermaßen über Aerosole verbreitet werden, liegt die Reproduktionzahl bei 18, also deutlich höher. Entweder, so schreiben die Autoren, ist die Menge an Corona-Viren, die zur Ansteckung nötig sind, höher als bei Masern oder Aerosole sind nicht die vorherrschende Art der Verbreitung.
Die Infektionsraten sind zu niedrig: Nur 5 % der Kontaktpersonen von Infizierten steckten sich in Fallserien an. Auch unter medizinischem Personal, das unwissentlich Inifizierte behandelte und nur Schutzmasken trug, ist die Infektionsrate mit unter 3 % sehr gering. Diejenigen, die sich angesteckt hatten, konnten auf nicht sachgemäßes Tragen der Schutzkleidung und Durchführen bestimmter Maßnahmen (Intubation) zurückgeführt werden.
Das Maskentragen: Wenn sich SARS-CoV-2 vornehmlich über die Luft ausbreitet, dann sollten N95- bzw. FFP2-Masken besser vor einer Infektion schützen als OP-Masken. Die Autoren ziehen mehrere Studien heran, die aber keine Unterschiede zwischen N95- und OP-Maske bezüglich der Ansteckung finden. Im Vergleich zu einer nicht getragenen Maske schützen beide Maskentypen gleich gut.
Die US-Mediziner resümieren, dass die bisherigen Erkenntnisse eher gegen eine prädominant aerosolbasierte Übertragung sprechen, insbesondere in gut ventilierten Räumen. Die derzeit getroffenen Maßnahmen, also sorgfältige Händehygiene, Maskentragen und Abstandhalten seien ausreichend, um die SARS-CoV-2-Ausbreitung einzudämmen.
Den Unterzeichnern des Briefs geht das nicht weit genug. Angesichts der weltweiten Lockerungen der Maßnahmen warnen die Experten, dass sich die Bevölkerung der Gefahr der Luftübertragung nicht bewusst sei. Zwar seien häufiges Händewaschen und Abstandsregeln „angemessene“ Maßnahmen, heißt es in dem Brief. Zugleich seien diese aber unzureichend, um Schutz vor virusbeladenen Aerosolen zu bieten. Man müsse mehr Maßnahmen für eine gute Belüftung von öffentlichen Räumen wie Schulen und Krankenhäusen umsetzen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ihre Leitlinie daraufhin überarbeitet und die mögliche Übertragung von SARS-CoV-2 durch Aerosole anerkannt.
Einig sind sich sowohl die Unterzeichner des Briefs als auch die US-Mediziner allerdings darin, dass die Übertragung von SARS-CoV-2 – ob nun über Tröpfchen oder Aerosole – noch nicht vollständig geklärt ist.
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