Eine aktuelle Publikation zeugt nicht nur m. E. von grenzenloser Selbstüberschätzung.
Athen – Das traditionelle Gichtmittel Colchicin, dem seit einigen Jahren antientzündliche Wirkungen zugeschrieben werden, hat in einer kleineren randomisierten Studie die Erholung von Patienten mit COVID-19 beschleunigt, wie die in JAMA Network Open (2020; 3: e2013136) publizierten Ergebnisse zeigen." (Zitat Ende)
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/114317/COVID-19-Studie-deutet-auf-Wirksamkeit-von-Colchicin-hin
Doch die mehr als bescheidenen Studienergebnisse wurden im Original folgendermaßen beschrieben:
"MAIN OUTCOMES AND MEASURES
Primary end points were (1) maximum high-sensitivity cardiac troponin level; (2) time for C -reactive protein to reach more than 3 times the upper reference limit; and (3) time to deterioration by 2 points on a 7-grade clinical status scale, ranging from able to resume normal activities to death.
Secondary end points were (1) the percentage of participants requiring mechanical ventilation, (2) all-cause mortality, and (3) number, type, severity, and seriousness of adverse events. The primary efficacy analysis was performed on an intention-to-treat basis."
Ausgerechnet die Mortalität als sekundären und nicht als primären Endpunkt zuzulassen, macht Medizinstatistiker und kritische Studienleser sofort misstrauisch: Denn entscheidend sind neben der allgemeinen doch die krankheits-spezifische Mortalität und natürlich auch die Notwendigkeit der mechanischen Beatmung als primäre Endpunkte.
Stattdessen halten sich die Autoren von "Effect of Colchicine vs Standard Care on Cardiac and Inflammatory Biomarkers and Clinical Outcomes in Patients Hospitalized With Coronavirus Disease 2019 - The GRECCO-19 Randomized Clinical Trial" (S. G. Deftereos et al.) https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2767593 mangels anderer spezifischer, sensibler, signifikanter bzw. insignifikanter Ergebnisdaten mit schlichten Surrogatparametern wie kardialen und inflammatorischen Biomarkern bzw. einem 7-gradigen klinischen Status-Scale auf, was zudem nur eine schwache bis gar keine Signifikanz aufwies.
Und das zu allem Überfluss bei einer prospektiven, nicht verblindeten, randomisierten klinischen Studie ["prospective, open-label, randomized clinical trial (the Greek Study in the Effects of Colchicine in COVID-19 Complications Prevention)"] mit gerade mal 105 Patienten: Jede Pflegeperson bzw. Ärztinnen/Ärzte wussten also von vorne herein, wer in der Colchicin-Gruppe war und wer nicht.
Ganz offensichtlich waren es auch nur wenig dramatische und viele harmlos verlaufende Fälle gewesen. Die Todesfälle werden auffallend lapidar beschrieben und gar nicht weiter analysiert: "Of the 7 patients who met the primary clinical end point in the control group, 1 (14.3%) needed noninvasive mechanical ventilation (bilevel positive airway pressure), 5 (71.4%) were intubated and ventilated mechanically (3 [42.9%] died shortly after intubation), and 1 (14.3%) died suddenly in the ward of cardiorespiratory arrest. The patient in the colchicine group who met the end point needed invasive mechanical ventilation and died subsequently in the intensive care unit."
In der Therapie wurde übrigens alles eingesetzt, was Rang und Namen hat:
"Table 1 Baseline characteristics
Concomittant COVID-19 treatment":
Chloroquin, Hydroxychloroquin, Azithromycin, Lopinavir, Ritonavir, Tocilizumab und Antikoagulation.
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Wurde durch diese Polypragmasie und Multimedikation etwa der spezifische Effekt von Colchicin als add-on im möglicherweise positiven wie auch im negativen Sinn nivelliert?
Ich persönlich kann mir vorstellen, wie es abgelaufen ist: Die Ergebnisse im Colchicin-Studienarm waren derart ernüchternd, dass die Studie umgeschrieben werden musste. Deshalb hat man die eigentlich sekundären in die primären Endpunkte umgetauft und sich nur noch auf Surrogatparameter verlegt, um die Publikation in einer hochkarätigen Fachzeitschrift zu retten.
Aber bitte, das ist meine höchst subjektive Einschätzung, doch zugleich ein Skandal ersten Ranges: Ein entsprechend seriöses "peer-review" Verfahren ist hier wohl gar nicht durchgeführt worden.
Doch das multimediale Echo auf diese m. E. völlig insuffiziente, insignifikante, irrelevante und irreführende Publikation wird nicht lange auf sich warten lassen.
"Publish or perish" bedeutet frei übersetzt "veröffentliche oder verrecke". Diese Fake-News-Publikation ist wohl nur dem allgemeinen Veröffentlichungswahn um SARS-CoV-2-Infektionen und COVID-19-Erkrankungen geschuldet.
2 Pflanzenfotos copyright Dr. Schätzler