Diabetes ist ein Risikofaktor, wenn es um den Verlauf einer COVID-19-Erkrankung geht. Aber kann umgekehrt das Virus das Risiko erhöhen, an Typ-1-Diabetes zu erkranken?
Mittlerweile gibt es einige Wissenschaftler, die auf einen Zusammenhang zwischen einer Infektion mit SARS-CoV-2 und einer Erkrankung an Diabetes hinweisen. So verfassten 15 Forscher von unterschiedlichen Universitäten wie unter anderem dem King’s College London, der Australian Monash University oder der Technischen Universität Dresden einen Brief an das New England Journal of Medicine. Der Titel: „New-Onset Diabetes in COVID-19“.
„Es herrscht eine bidirektionale Verbindung zwischen COVID-19 und Diabetes“, heißt es darin. „Auf der einen Seite wird Diabetes mit einem erhöhten Risiko für schwere COVID-19-Verläufe assoziiert. Auf der anderen Seite wurde bei Patienten mit COVID-19 ein neu auftretender Diabetes, aber auch schwere metabolische Komplikationen wie diabetische Ketoazidose […] bei bereits existierendem Diabetes beobachtet.“
Bisher gibt es nur eine Handvoll Fälle von Menschen, die plötzlich einen Diabetes entwickelten, nachdem sie sich mit SARS-CoV-2 infiziert hatten und noch ein Dutzend Menschen mit COVID-19, die mit extrem hohen Blutzuckerwerten und erhöhtem Ketonspiegel in die Klinik eingewiesen wurden. Auch in der Fachzeitschrift Nature widmete man sich der Thematik in einem wissenschaftlichen Artikel. Unter anderem berichtet der Autor von Finn Gnadt, einem 18-jährigen Studenten aus Kiel, dessen Großeltern sich während einer Kreuzschifffahrt in Österreich mit SARS-CoV-2 infiziert hatten. Die Familie wurde Mitte April auf Antikörper getestet. Zwar hatte er keine Symptome bemerkt, doch er hatte sich mit SARS-CoV-2 infiziert. Einige Tage später fühlte Finn sich geschwächt und hatte ein starkes Durstgefühl. Anfang Mai erhielt er die Diagnose Typ-1-Diabetes. Für seinen Arzt Tim Hollstein, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, liegt eine Verbindung mit der Corona-Infektion nah.
Bei den meisten Menschen mit Typ-1-Diabetes beginnen die Immunzellen oft plötzlich damit, β-Zellen im Pankreas zu zerstören. Diese sind für die Insulinproduktion zuständig. Hollstein vermutete, dass SARS-CoV-2 bei Finn β-Zellen zerstörte, weil das Blut des jungen Mannes nicht die Immunzell-Typen aufwies, die üblicherweise für Schädigungen der Pankreasinseln verantwortlich sind.
Paul Zimmet formuliert es so: „Diabetes ist Dynamit, wenn man an COVID-19 erkrankt.“ Er ist einer der Briefverfasser und forscht an der Monash University in Melbourne. „In der Wissenschaft muss man manchmal mit ziemlich wenig Evidenz starten, um eine Hypothese zu verfolgen“, so Zimmet. Er sieht das Virus als möglichen Trigger für die metabolische Erkrankung: „Diabetes selbst ist eine Pandemie genau wie COVID-19. Diese zwei Pandemien könnten nun aufeinanderprallen“, wird er in Nature zitiert.
Derzeit gibt es viele kleine wissenschaftliche Hinweise für die Annahme. So wurde etwa ein Zusammenhang zwischen einigen Viren und Autoimmunerkrankungen wie unter anderem Typ-1-Diabetes hergestellt. Zudem wurde bereits in einer Arbeit darauf hingewiesen, dass viele Organe, die bei der Kontrolle des Blutzuckers involviert sind, reich an ACE2 sind – dem Protein, das SARS-CoV-2 nutzt, um Zellen zu infizieren. Die neueste Publikation in diesem Bereich ist ein Experiment mit im Labor gezüchteten Bauchspeicheldrüsen.
Darin wird nahegelegt, dass SARS-CoV-2 Diabetes durch Schädigungen von Zellen triggern könnte, die den Blutzucker kontrollieren. Shuibing Chen, Stammzellbiologin am Weill Cornell Medicine in New York City, konnte mit ihrem Team zeigen, dass SARS-CoV-2 sowohl α- als auch β-Zellen der Organoide infizierte; manche von ihnen starben letztendlich. Chen zufolge macht das Experiment deutlich, dass das Virus dazu in der Lage ist, die Funktion der Schlüsselzellen zu zerstören, die bei Diabetes involiviert sind – indem das Virus sie direkt töten oder indem es eine Immunreaktion triggert, wodurch die Zellen angegriffen werden. Trotzdem handelt es sich lediglich um Hinweise, nicht aber um Belege für die Hypothese.
So wird etwa Shane Grey, Garvan Institute of Medical Research in Sydney, zitiert, der sich auch eine andere Erklärungsoption vorstellen kann. Das Virus könne zum Beispiel einen derart extremen inflammatorischen Zustand triggern, dass die Fähigkeit der Bauchspeicheldrüse, Glukose zu erkennen und Insulin freizusetzen, beeinträchtigt wird. Die Fähigkeit von Leber und Muskeln, Hormone zu identifizieren, könne gedämpft werden. All diese Faktoren könnten dann in weiterer Folge einen Diabetes triggern.
Außerdem könnten Fatigue und Muskelschwund als Folge einer schweren Infektion ebenfalls das Risiko erhöhen, einen prädiabetischen Zustand zu erreichen, sagt etwa Naveed Sattar gegenüber Nature.
Doch erst müsse man die zukünftigen Entwicklungen beobachten. „Wir müssen die Diabetesrate bei Menschen mit vorangehender COVID-19-Erkrankung im Blick haben und kontrollieren, ob die Rate ungewöhnlich ansteigt“, so Sattar, die an der University of Glasgow metabolische Erkrankungen erforscht.
Noch stehen viele unbeantwortete Fragen im Raum. Um mehr über die Zusammenhänge der beiden Erkrankungen herauszufinden, hat eine Gruppe internationaler Diabetologen das globale Register CoviDiab ins Leben gerufen. Auf diese Weise sollen Fälle aus aller Welt gesammelt und analysiert werden.
Auch bei Dr. Dirk Hochlenert, Experte auf unserem Diabetologie-Kanal Zuckerrohr haben wir nachgefragt, was er von der Theorie hält. „Ich glaube, das ist eine ernstzunehmende Hypothese, die die Zukunft klären wird“. Er hofft auf neue Erkenntnisse durch CoviDiab. „Das Virus macht wohl mehr Ärger, als es eine ‚normale Grippe‘ kann. Ob Typ-1-Diabetes dazu gehört, wird sich aus Registern noch zeigen.“
Bildquelle: Vincent Ghilione, Unsplash