40 ist das neue 60. Das zumindest sagen Mathematiker, wenn es um die Herdenimmunität bei COVID-19 geht. Der Trick: Ihr Modell bezieht Alter und soziale Aktivitäten mit ein.
Wenn es um die Herdenimmunität in Bezug auf COVID-19 geht, wird allgemein davon ausgegangen, dass sie erreicht wird, sobald 60 Prozent der Bevölkerung immun gegen SARS-CoV-2 sind. Ausgehend von einer Basisreproduktionszahl R0 von 2,5 berechnet sich die Schwelle für die Herdenimmunität (HImin) nach dem Basis-Modell wie folgt: HImin [%] = 100 – (1/R0 * 100).
Im Basis-Modell wäre jede Person in der Bevölkerung mit derselben Wahrscheinlichkeit immun, wie es bei einer allgemeinen Schutzimpfung angenommen werden kann. Die Mathematiker argumentieren: Wenn die Immunität durch die Ausbreitung einer Krankheit entsteht, kann die Wahrscheinlichkeit der Immunität durch unterschiedliche Verhaltensweisen bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen stark variieren.
In ihrem Science-Artikel haben sie die Bevölkerung nach Alter (6 Kategorien) und sozialer Aktivität (3 Kategorien) gruppiert und kommen damit zu dem Ergebnis, dass die Schwelle für die Herdenimmunität niedriger ist, wenn die Immunität durch die Übertragung einer Krankheit anstatt durch Impfung entsteht: Ihren Berechnungen nach ist das schon bei 43 Prozent der Fall.
Tabelle: Schwelle für Herdenimmunität durch Krankheit (hD) und klassisch berechnete Schwelle (hC) unter Betrachtung verschiedener Bevölkerungsstrukturen. Nach Britton et al.
Interessant ist der Effekt verschieden starker Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen: Wenn die R0 von 2,5 durch Maßnahmen um den Faktor 0,8 oder 0,6 gesenkt wird, so ist nach einer Lockerung am Tag 135 (15.03. bis 30.06.2020) dem Modell zufolge keine zweite Infektionswelle zu erwarten, ebenso ohne jegliche Maßnahmen.
Wird R0 durch sehr strikte Maßnahmen jedoch um den Faktor 0,53 gesenkt, so zeigt sich nach deren Lockerung eine zweite Infektionswelle, weil nach 135 Tagen noch keine ausreichende Herdenimmunität vorliegt, und insgesamt kommt es zu mehr Krankheitsfällen als bei einem Faktor von 0,6.
Eigener Aussage der Autoren nach dient der Wert von 43 Prozent eher zur Veranschaulichung und sollte nicht absolut betrachtet werden. So bleiben unterschiedliche Suszeptibilitäten für SARS-CoV-2 durch genetische Merkmale oder Alter ebenso unberücksichtigt wie der Aufenthalt in Umgebungen mit vielen Menschen.
Und es gibt noch ein zusätzliches Problem: Wir wissen noch nicht, wie zuverlässig und langanhaltend die Immunität nach einer COVID-Infektion ist: In einer in Nature erschienenen Studie wurden 37 Personen untersucht, die asymptomatisch mit SARS-CoV-2 infiziert waren. Ihre virusspezifischen IgG-Spiegel waren deutlich niedriger als bei einer symptomatisch erkrankten Vergleichsgruppe.
Die Antikörperkonzentrationen nahmen während der Genesung ab, und 40 Prozent der asymptomatischen Personen wurden in der frühen Rekonvaleszenzphase seronegativ, in der symptomatischen Gruppe war dies bei 12,9 Prozent der Fall.
In derselben Ausgabe wird in einem anderen Artikel unter 149 genesenen Personen die Beobachtung geschildert, dass die Titer von neutralisierenden Antikörpern 39 Tage nach Beginn der Symptome häufig niedrig waren: In 33 Prozent der Fälle lag er unter 1:50, zu 79 Prozent unter 1:1.000, und nur zu einem Prozent über 1:5.000.
Das heißt aber noch nicht, dass keine Immunität vorliegt, denn bei fast allen Personen wurden spezifische Gedächtniszellen gefunden.
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