Ich habe während Corona eine Beobachtung gemacht: Es stellen sich kaum noch Eltern mit Kindern im Notdienst vor. Und die, die kommen, gehören wirklich in die Notaufnahme. Auch dort ist es leer.
In unseren organisierten Notdiensten für Kinder und Jugendliche am Wochenende und vielerorts am Abend, wenn die Praxen geschlossen sind, machen wir seit der Corona-Zeit eine sehr interessante Beobachtung: Es kommen kaum noch Eltern mit ihren Kindern. Und: Die Kinder, die vorgestellt werden, sind in aller Regel wirklich krank.
Das soll jetzt nicht abwertend klingen im Blick auf frühere Zeiten, aber der Notdienst wurde vielfach missbraucht als praktische Anlaufstelle zum Wochenende, weil a) man es unter der Woche nicht geschafft hat oder b) man keinen Termin in der Praxis bekam/ausgemacht hatte. Ähnlich dürfte es in den allgemeinmedizinischen Notfallpraxen aussehen.
Aber warum ist gerade so wenig los? Drei Erklärversuche:
ad 1.) Vielleicht der entscheidende Faktor: Kitas und Schulen sind/waren geschlossen, die Kinder tauschen keine Erreger mehr aus. In der Praxis sehen wir praktisch keine Infektionen mehr, auch keine Läuse auf dem Kopf, geschweige denn Bindehautentzündungen oder Magen-Darm-Erkrankungen. Das Bewusstsein für Hygiene hat zugenommen. Es werden sicherlich mehr Hände gewaschen, ein pädagogischer Nebeneffekt der Aufklärungsprophylaxe der C-Krise. Vielleicht spielt doch der Sommer eine Rolle?
Problem: Das wird sich wohl demnächst wieder ändern, wenn die Gemeinschaftseinrichtungen wieder regulär öffnen.
ad 2.) Das zumindest melden manche Eltern zurück. „Sollen wir wirklich am Wochenende in die Klinik, wenn es nicht besser wird?“ (Das empfehlen wir freitags mitunter.) „Aber da holen wir uns doch nur Corona?“ – Sagen wir so: Nicht wahrscheinlicher als in der Kinderarztpraxis, auf dem Spielplatz oder demnächst wieder in der Kita.
Problem: Das wäre wirklich besorgniserregend, denn das könnte dazu führen, dass tatsächlich Kranke zu spät vorgestellt werden, dass eine notwendige Behandlung unterbleibt. Gerade bei Kindern sollte die Sorge um Infektion niemanden davon abhalten, einer medizinischen Hilfe fernzubleiben.
ad 3.) Die Corona-Pandemie hat bei vielen Menschen die Sensibilität geschärft, dass es wirklich schwere Erkrankungen direkt beim nächsten Händedruck geben kann. Das SARS-2-CoVirus hat so viele Menschen in Deutschland getroffen, dass vermutlich jeder in seinem Bekannten- oder Verwandtenkreis jemanden kennt, der erkrankt ist, wenn nicht gar (im Ort) intensivpflichtig behandelt wurde oder verstorben ist. Die Gefahr war unmittelbar spürbar. Das relativiert natürlich andere Dinge wie „Husten seit einer Minute“ oder „38,2 Temperatur seit gestern abend“ oder „Pickelchen am Po seit vierzehn Tagen“, die wir in den Notfallpraxen sehen.
Problem: Ich fürchte, dass sich diese Sensibilisierung in der nächsten Zeit wieder verlieren wird. Zum einen wachsen neue Eltern nach, die die Erfahrungen der Corona-Krise und die Relativität anderer banalerer Erkrankungen nicht gemacht haben. Außerdem ist immer das nächste das Schlimmste: Seitdem die Medien wieder weniger berichten, das Masketragen zur Selbstverständlichkeit wird, Menschen ihre Grundrechte in Gefahr sehen und lieber Hand in Hand mit anderen Verschwörungstheoretikern demonstrieren gehen, ist plötzlich das rosa gereizte Auge des verschlafenen Kindes der Weltuntergang. Und muss sofort mit Blaulicht und unter Aufwand maximaler Diagnosemöglichkeiten in der Notfallambulanz abgeklärt werden. Ich übertreibe.
1) und 2) lassen sich nicht beeinflussen. Aber: Ich würde mir wünschen, dass Eltern und Patienten ein besseres Gefühl für die Relation und die Dringlichkeit ihrer „Krankheiten“ bekommen. Notfallambulanzen heißen nicht umsonst so. Dass sie mancherorts „Arztpraxis am Wochenende“ genannt werden (auch schon gesehen), ist mehr als unglücklich für die Wahrnehmung der omnitemporären Verfügbarkeit eines Arztes.
Auch die Einsicht, dass unser Medizinsystem recht schnell an seine Grenzen kommen kann, wenn tatsächlich eine allumfassende Erkrankung die Runde macht, darf gerne erhalten bleiben. Notfallambulanzen soffen aber bereits vor Corona an vielen Tagen wegen der Versorgung von Bagatellerkrankungen ab, bei den allgemeinmedizinischen KollegInnen noch mehr als bei uns Kinder- und Jugendärzten.
Versuchen wir in Zukunft, vernünftiger zu sein und stellen wir uns als Eltern ein paar Fragen, bevor wir in die Wochenendnotfallpraxis fahren:
Bildquelle: ÉMILE SÉGUIN, Unsplash