Kaum ein Thema wird in der Geburtshilfe so kontrovers diskutiert wie die Sectiorate. Wann ein Kaiserschnitt erforderlich ist, darüber sind auch Experten uneins. Ein Überblick zur neuen S3-Leitlinie.
Global gesehen ist die Sectio caesarea der häufigste operative Eingriff in der Geburtshilfe, Tendenz steigend. Weltweit schwankt die Sectiorate stark, die Türkei liegt mit 50 % weit vorne, Israel mit 15 % weit hinten. In Europa wird in 25 % der Fälle eine Schwangerschaft per Kaiserschnitt beendet, auf Zypern sind es 52 % der Fälle, in den Niederlanden nur 17 %.
Selbst in Deutschland schwanken die regionalen Zahlen erheblich: Die höchste Rate findet sich im Saarland mit 40 %, die niedrigste in Sachsen mit 24 %. Das erste Mal seit 20 Jahren stieg im Jahr 2012 die Sectiorate in Deutschland nicht an, sondern ging leicht zurück und ist nach einem erneuten, kurzen Anstieg seit 2014 (31,8 %) wieder leicht rückläufig. Es stellt sich die Frage, ob sich hiermit eine Sättigung oder sogar eine Trendwende erkennen lässt.
Positiv ist die mittlerweile enorme Senkung der maternalen Mortalität in Folge einer Sectio, die heute mit 0,04 % in Deutschland angegeben wird, wobei über Kurz- und Langzeitmorbiditäten von Mutter und Kind bislang wenig bekannt ist.
Entsprechend der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) zählen zu den absoluten Indikationen für einen Kaiserschnitt diejenigen geburtshilflichen Situationen, in denen es um die Rettung von Leben und Gesundheit von Mutter und/oder Kind geht.
Hierzu zählen eine Querlage, eine (drohende) Uterusruptur, eine Plazenta praevia oder eine vorzeitige Plazentalösung. Auch eine Eklampsie, ein Triple I (Intrauterine Inflammation, Infection, or both; ehemals: Amnioninfektionssyndrom) oder ein plötzlicher Nabelschnurvorfall können solche Indikationen hervorrufen. Weniger als 10 % aller Sectiones haben eine absolute Indikation.
Bei etwa 90 % der Kaiserschnitte ist eine Abwägung der geburtshilflichen Risiken für Mutter und Kind geboten. Hierunter fallen beispielsweise die Beckenendlage, eine vermutete fetale Makrosomie, der protrahierte Geburtsverlauf mit maternaler Erschöpfung und drohender fetaler Azidose, Mehrlingsschwangerschaften und ein vorausgegangener Kaiserschnitt.
Letzteres gilt als der häufigste Grund für eine primäre Re-Sectio, also die geplante erneute Schnittentbindung vor Geburtsbeginn. Die Inzidenz einer möglichen Uterusruptur liegt in diesem Fall bei Spontanpartus bei etwa 0,7 %. Der sogenannte Wunschkaiserschnitt, demnach ein Kaiserschnitt ohne medizinische Indikation, liegt in Deutschland bei 1,9 % aller Geburten. Hierzu bemerkt die Leitlinie ganz knapp:
„Wenn eine Frau eine Sectio wünscht, sollen Risiken und Nutzen der Sectio im Vergleich zur vaginalen Geburt mit der Frau besprochen und anschließend der Inhalt des Gesprächs dokumentiert werden.“
Die Leitlinie gibt unter Auflistung der zugehörigen Studien u. a. folgende Ereignisse an, die im Zusammenhang mit einem Kaiserschnitt häufiger beobachtet werden als nach einer vaginalen Geburt:
Seltener beobachtet werden dagegen:
Schwangeren mit einer primären genitalen Herpes-Simplex-Infektion im dritten Trimenon sollte eine primäre Sectio angeboten werden, da diese das Risiko einer neonatalen Infektion verringert. Dagegen sollte bei einer HPV-Infektion keine primäre Sectio empfohlen werden.
Eine maternale Hepatitis-B- oder Hepatitis-C-Infektion rechtfertigt ebenfalls keine primäre Sectio, da dies die Mutter-Kind-Übertragung nicht verringert. Bei einer HIV-Infektion ist ebenso kein geplanter Kaiserschnitt nötig, wenn die Schwangere eine antiretrovirale Kombinationstherapie einnimmt und die Viruslast entsprechend niedrig ist.
Frauen, deren Kinder sich in Beckenendlage befinden, sollte darüber aufgeklärt werden, dass derzeit kein Geburtsmodus für die Kinder präferiert werden kann. Die vaginale Beckenendlagengeburt stellt jedoch eine Alternative mit niedrigerer mütterlicher Morbidität dar.
Bei der Geburtseinleitung nach vorausgegangener Sectio sollte eine kontinuierliche Überwachung und die Möglichkeit eines Notkaiserschnittes gegeben sein, um bei einer drohende Uterusruptur rechtzeitig adäquat zu handeln.
Hatte die Patientin neben dem zurückliegenden Kaiserschnitt auch bereits eine vaginale Geburt, steigt die Wahrscheinlichkeit für eine erneute vaginale Beendigung der Schwangerschaft.
Allgemein sollte eine primäre Sectio nicht unbegründet vor 39+0 SSW durchgeführt werden. Das Risiko für eine respiratorische Anpassungsstörung des Neugeborenen ist nach einem Kaiserschnitt höher als nach einer vaginalen Geburt, sinkt jedoch signifikant nach der 39+0 SSW.
Die Leitlinie empfiehlt ein baldmögliches Bonding nach Sectio noch im OP, sofern maternaler und kindlicher Zustand es zulassen. Das Stillen sollte besonders unterstützt werden, um trotz der operativen Umstände eine erfolgreiche Stillbeziehung aufzubauen.
„Die mütterlichen Wünsche im Rahmen der Sectio sollten soweit möglich berücksichtigt werden. Die Atmosphäre sollte dem Geburtserleben Rechnung tragen“, so die Autoren der Leitlinie.
Insgesamt bietet die Leitlinie nichts grundlegend Neues und bleibt in wesentlichen Punkten sogar eher zurückhaltend:
„Die Vorgabe einer spezifischen Sectio-caesarea-Rate (‚Sectiorate’) ist nicht Bestandteil dieser Leitlinie. Dies nicht zuletzt deshalb, weil derzeit aufgrund fehlender Daten zur mütterlichen und kindlichen Morbidität keine zuverlässige Aussage über eine optimale Rate getroffen werden kann. Die von der WHO im Jahr 1985 formulierte Grenze von 10 bis 15 Prozent wurde in einem WHO-Statement im Jahr 2015 aus eben diesem Grund relativiert. Als gesichert darf aber die Erkenntnis gelten, dass eine Sectiorate über 15 Prozent keinen günstigen Einfluss auf die mütterliche und neonatale Morbidität und Mortalität hat und deshalb gut medizinisch begründet sein sollte.“
Prof. Holger Stepan von der Uniklinik Leipzig äußert sich hingegen konkreter, wie eine Senkung der Sectiorate möglich wäre:
„Die relativen Sectioindikationen (protrahierte Geburt, maternale Erschöpfung, einmalige frühe Dezeleration im CTG usw.) werden mancherorts sehr großzügig interpretiert und der Spontanpartus aufgrund einer defensiven Haltung des Geburtshelfers zu früh abgebrochen. Gerade diese ‚weichen’ Indikationen bieten die beste Möglichkeit, eine maßvolle und differenzierte Senkung der Kaiserschnittrate herbeizuführen. Voraussetzung für die Umsetzung ist eine entsprechende medizinische Expertise.“
In Deutschland kommen Kinder in Beckenendlage zu 91 % per Kaiserschnitt zur Welt, bei Mehrlingsgeburten sind es 75 %. Laut Stepan ist dies auf mangelnde klinische Erfahrung, fehlende Ausbildung und die Angst vor möglichen Komplikationen mit rechtlichen Konsequenzen zurückzuführen, obwohl die Evidenz nicht die Sectio favorisiert oder vorschreibt. Leider wird die vaginale Geburt bei Beckenendlage oder bei Mehrlingsschwangerschaften nur noch in wenigen deutschen Geburtskliniken praktiziert und gelehrt.
„In der Debatte um die hohen Sectioraten sollte also die Ausbildung zukünftiger geburtshilflicher Generationen von zentraler Bedeutung sein. Nur durch ein sicheres Beherrschen „geburtshilflichen Handwerks“ und Sicherheit im medizinischen Handeln können Indikationen zur Sectio kritisch hinterfragt und nicht notwendige Kaiserschnitte vermieden werden (…). Letztlich kann die ‚richtige Sectiorate’ durch niemanden ermittelt und festgelegt werden“, so das Resümee von Stepan.
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