Der Virologe Hendrik Streeck plädiert für gesellschaftliche Lockerungen, damit es zur „schleichenden Immunität“ in der Bevölkerung kommt. Ich halte nichts von seinen Plänen.
Deutschland atmet auf. Mit nur noch 214 Neuinfektionen (Stand 8.6.2020, 8:20 Uhr) erreicht die Pandemie hierzulande ein aktuelles Minimum. Hamburg, Hessen, Sachsen und fünf weitere Bundesländer melden jeweils weniger als zehn neue Fälle.
Die Bundesländer lockern Stück für Stück ihre Regelungen; Restaurants eröffnen wieder. Man macht Sport, man genießt die Sonne – und im Berliner Landwehrkanal tobte kürzlich eine Technoparty mit etwa 3.000 Teilnehmern. Ohne Abstandsregeln, versteht sich.
„Diese Bilder bereiten mir Sorgen“, kommentierte Jens Spahn auf Twitter. „Lasst uns das Erreichte sichern und weiterhin im Alltag aufeinander Acht geben.“
Doch es gibt durchaus andere Stimmen. „Wir sollten uns über den Sommer ein bisschen mehr Mut erlauben“, sagt Prof. Hendrik Streeck gegenüber der dpa. Er ist vor allem seit der Heinsberg-Studie bekannt.
Jetzt hofft Streeck, man könne während der warmen Jahreszeit Teilimmunität in der Bevölkerung aufbauen, um den weiteren Verlauf der Pandemie abzuschwächen.
Der Virologe führt einige Argumente an. Studien zeigten, dass bis zu 81 Prozent der Infektionen asymptomatisch verliefen. Hinzu kommt: „Die Zahl der Covid-19-Erkrankten auf den Intensivstationen ist derzeit rückläufig“, sagt Streeck. Auch könne sich die Hoffnung auf einen Impfstoff als trügerisch erweisen. Also solle man sich darauf einstellen, mit dem Virus zu leben.
Offene Fragen sind dem Virologen durchaus bewusst: „Was wir sehen, ist, dass auch Menschen mit asymptomatischen Verläufen eine Immunität oder Teilimmunität aufbauen“, erklärt Streeck. „Wir wissen noch nicht, ob es eine schützende Immunität ist, aber sie bauen zumindest Antikörper gegen das Virus auf, und da kann man davon ausgehen, dass das zumindest einen Teilschutz ergibt.“
Er hofft also auf eine „schleichende Immunität in der Gesellschaft“, welche „am Ende diejenigen schützt, die auch einen schwereren Verlauf haben können“.
Letztlich gibt es in der Corona-Pandemie nur eine Gewissheit: Nichts ist gewiss, alles ist neu, wir haben zu wenige Daten. Warum Deutschland – verglichen mit den USA oder mit Italien – so glimpflich davongekommen ist, mag am Lockdown liegen. Aber auch Masken und Abstandsregeln haben ihren Teil dazu beigetragen, berichten Forscher. Tatsächlich verringerte sich das Infektionsrisiko um 80 Prozent oder mehr.
Einer anderen Schätzung zufolge sollen die Maßnahmen deutschlandweit bis zu 560.000 Menschenleben gerettet haben.
Man könnte also vorsichtig behaupten: Die Strategie hat sich ausgezahlt. Dass Menschen jetzt gegen diese Maßnahmen demonstrieren, ist eine andere Sache. Doch das Problem, das ich hier sehe: Genau diesen Corona-Kritikern liefert Streeck neue Nahrung.
Einmal mehr sehen wir die Differenzierung unserer Gesellschaft in Normale, Gesunde – und in den Rest. Wer Vorerkrankungen hat, hat eben Pech.
Schweden hat früh auf die gezielte Durchseuchung der Gesellschaft gesetzt. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Durchseuchung nicht so richtig funktioniert. Selbst in der besonders stark betroffenen Hauptstadt Stockholm hatten nur 7,3 Prozent der Bewohner Antikörper gebildet.
In anderen Teilen des Landes schwankten die Zahlen zwischen 3,7 Prozent und 4,2 Prozent – und das alles zu einem hohen Preis. Auf rund zehn Millionen Einwohner kamen 4.694 Todesfälle. In Deutschland starben bei einer Bevölkerung von knapp 84 Millionen derzeit 8.783 Menschen.
Unter den Opfern in Schweden waren oft Menschen in Altenheimen. Das kam in Deutschland auch vor, aber nicht in dem Maße. Wollen wir wirklich „mehr Mut“ (Streeck) wagen und riskieren, dass viele alte Menschen in Deutschland sterben? Geht der Trend weiter wie gehabt, wird sich nämlich bald kaum mehr jemand an Besuchsregeln oder Kontaktverbote halten. Und dann schnellen Mortalitätsraten nach oben.
Auch Streecks Skepsis bei Impfstoffen erschließt sich mir nicht. Niemand kann in die Zukunft schauen. Aber es lassen sich Fakten zusammentragen. Ich sah neulich ein Online-Interview mit dem US-Virologen Dr. Anthony S. Fauci. Er berichtet, dass sich mehrere Impfstoffe – u.a. RNA- und Vektor-basierte Vakzine – derzeit in Phase-2-Studien befinden. Innerhalb von sechs Monaten rechnet er mit ersten Ergebnissen aus Phase-3-Studien. Und so mancher Hersteller hat sogar schon mit der Produktion angefangen. Es gibt meines Erachtens keinen Grund für Skepsis an der Wissenschaft. Es tut sich vieles.
Sinnvoller wäre, den Sommer über vernünftig zu bleiben und sich zu schützen, auch wenn es schwerfällt. Das Leben wird ab Ende 2020/Anfang 2021 mit Partys weitergehen. Und wir sollten auf die (neues Unwort!) Risikogruppen achten – unsere Eltern oder Großeltern.
Bildquelle: Anupam Mahapatra, Unsplash