„Wie ein Ritt auf einem Araberhengst“ beschreibt ein Experte die Borderline-Störung. Auch als Gynäkologin kann ich bei der Diagnose helfen – wenn ich die Hinweise meiner Patientinnen richtig einordne.
„Haben Sie das Gefühl, dass Sie anders sind als alle anderen? Dass Sie einfach nicht dazugehören? Kommen Sie sich manchmal vor wie ein Alien?“
So beginnt der Ratgeber zur Borderline-Persönlichkeitsstörung, den Prof. Martin Bohus, Wissenschaftlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, herausgegeben hat. Er war es auch, der das derzeit erfolgreichste Therapieverfahren bei einer Borderline-Störung aus den USA in Deutschland etabliert hat. Aktuell ist er einer der angesehensten Experten auf diesem Gebiet.
Es sind drei Fragen, die Bohus als erfahrener Kliniker im Diagnosegespräch stellt:
Damit wird schnell klar, ob es sich um eine Persönlichkeitsstörung handelt, die gekennzeichnet ist von schwerwiegenden Störungen der eigenen Emotionsregulation und einem oft abwertenden Selbstbild. Die Betroffenen sind äußerst empfindsam für kleine Auslöser, die andere gar nicht registrieren und entwickeln dabei heftige und sehr starke Emotionen. Als Spannungslöser werden dann Dinge wie Selbstverletzungen, Drogenkonsum oder verschiedene Formen von Hochrisikoverhalten eingesetzt.
Patientinnen in der Gynäkologie können mit Narben an den Extremitäten und dem Unterbauch, aber auch mit riskantem Sexualverhalten auffallen. In posttraumatischen Konstellationen können Vaginismus, Dyspareunie oder fehlende Libido beklagt werden. Im Gespräch geht es oftmals um Verlassenheitsängste, schwierige Beziehungsgefüge, starke Stimmungsschwankungen und große Unzufriedenheit mit dem eigenen Körperbild.
Bei Abweichungen des Essverhaltens, wie bulimische Attacken oder anorektisches Verhalten, Suchtproblemen, depressiven Episoden oder posttraumatischen Belastungssymptome ist im Zusammenhang mit einer Borderline-Störung an ein möglicherweise komorbides Geschehen zu denken. Weiterhin treten auch Hyperaktivität oder soziale Phobien auf, leider sind suizidale Impulse ebenfalls ein Thema. Dissoziative Phänomene, etwa ein tiefgreifendes Gefühl der Unwirklichkeit, werden ebenfalls beschrieben.
Der Begriff Borderline stammt noch aus einer Zeit, in der man irrtümlich annahm, dass Patienten mit den beschriebenen Symptomen an einer Grenzform der Schizophrenie litten. Heute weiß man, dass es sich um zwei unterschiedliche Störungen handelt. Die Bezeichnung hat man dennoch beibehalten.
Die Frage nach der Ursache von Borderline-Störungen kann nicht eindeutig beantwortet werden. Die meisten Wissenschaftler gehen von einem multifaktoriellen Geschehen aus, bei dem biologische, psychische und soziale Anteile zusammenwirken. Bestimmte Charaktereigenschaften, wie hohe Sensitivität und starke emotionale Empfindlichkeit, können bei psychosozialen Belastungen eine Verwundbarkeit hervorrufen.
Insbesondere Ablehnungs- und Trennungssituationen können bei entsprechender Disposition zum Trigger werden. Weiterhin geht man davon aus, dass etwa 70 % der Borderline-Patienten von sexuellem Missbrauch, körperlicher Gewalt oder emotionaler Vernachlässigung betroffen sind. Andererseits gibt es Patienten, bei denen keinerlei erkennbare Auslöser gefunden werden können.
Vor Beginn der Therapie ist die richtige Diagnostik entscheidend. Zwar sind Männer und Frauen gleich häufig betroffen, aber die meisten Patienten, die eine Therapie eingehen, sind weiblich. Die Störung beginnt meist mit der Pubertät und etwa ein Drittel der erwachsenen Borderline-Patienten berichten, dass das selbstschädigende Verhalten schon vor dem 12. Lebensjahr begonnen hat.
Eine große Studie in Deutschland zeigte, dass sich etwa jedes zwanzigste 15-jährige Mädchen regelhaft selbst verletzt, was häufig geheim gehalten wird und die Diagnosestellung auch aufgrund der Nähe zur Pubertät erschwert. Fallen Symptome auf, die in Richtung einer Borderline-Störung gedeutet werden können, ist es besonders wichtig, dass ein darin erfahrener Kliniker die richtigen Fragen stellt und, falls erforderlich, eine evidenzbasierte Therapie einleitet.
Die US-Amerikanerin Marsha Linehan hatte Jahre in der geschlossenen Psychiatrie verbracht und sich dann vorgenommen, den „Weg aus der Hölle des Borderline-Lebens zu finden, um dann zurückzukehren und anderen den Weg zu zeigen.“
Sie wurde Professorin für Psychologie an der University of Washington in Seattle und leitet ein Therapiezentrum für Boderline-Persönlichkeitsstörungen. Sie entwickelte in den achtziger Jahren die sogenannte Dialektische Behaviorale Therapie (DBT), eine Form der ambulanten Therapie bei Borderline-Störungen, die heute weltweit, neben verschiedenen anderen Verfahren, das führende Behandlungskonzept darstellt.
Martin Bohus hat die DBT in Deutschland etabliert und ist Experte, was die Therapie von Borderline-Störungen anbelangt. Er selbst beschreibt die Methode so:
„Die Patienten erhalten kleine Werkzeuge, sogenannte Skills, mit deren Hilfe sie lernen, die eigene Emotionsregulation in den Griff zu bekommen. Damit erfahren sie, wie sie gegen Selbstabwertung angehen, Spannungszustände positiv auflösen und zwischenmenschliche Beziehungen konstruktiver gestalten können. Das Skills-Training besteht aus den fünf Modulen Achtsamkeit, Stresstoleranz, Umgang mit Gefühlen, zwischenmenschliche Fertigkeiten und Selbstwertsteigerung. Die ambulante Therapie dauert unterschiedlich lange, im Durchschnitt etwa zwei Jahre. Alternativ gibt es stationäre oder teilstationäre Intensivprogramme. Derzeit gibt es kein wirksames oder speziell zugelassenes Medikament zur Therapie der Borderline-Störung, hingegen können spezifische Merkmale der Erkrankung behandelt werden. Dabei können unter anderem Antidepressiva eingesetzt werden.“
Beginnt man so früh wie möglich mit einer evidenzbasierten Therapie, so Bohus, sind die Erfolgsaussichten gut:
„Es gibt Möglichkeiten, mit einer Borderline-Störung richtig gut umzugehen. Es ist eine Störung, die auch ein reiches Leben bescheren kann. Manche Patienten sagen mir, das ist, als wenn man auf einem Araberhengst sitzt … Andere Menschen reiten auf gemütlichen Brauerei-Gäulen und Haflingern. Wenn man den Araberhengst reiten kann, ist es hochaufregend, intensiv, klasse – aber sie müssen lernen, den Hengst zu reiten. Der Vorteil von Borderline-Patienten ist, dass sie enorm intensiv leben können. Das ist Natur erleben, Spiritualität, Musik, auch Sexualität, Körperlichkeit. Wenn man sie zulässt, sind Borderline-Patienten unheimlich begabt und reich in der Wahrnehmung. Sie müssen nur lernen, es auszuhalten und ein Containment aufzubauen. Dann kann so ein Leben nie einfach, aber absolut erfüllend und lebenswert sein.“
Man geht davon aus, dass nach dem 45. Lebensjahr nur noch einer von zweihundert Menschen in Deutschland von einer Boderline-Störung betroffen ist.
Die Beschäftigung mit dem Krankheitsbild der Borderline-Störung hat mir geholfen, einige meiner Patientinnen besser zu verstehen. Außerdem gab es in der Praxis auch Verdachtsfälle bei jungen Frauen, die dann an kompetente Stellen weitergeleitet werden konnten.
Wichtig ist es, überhaupt bei entsprechenden Symptomen, an eine Borderline-Störung zu denken und an jemanden zu verweisen, der die richtigen Fragen stellt und professionelle Hilfe anbieten kann.
Bildquelle: Jon Tyson, unsplash