Arzneistoffe, Lärm oder Infektionen können zu Hörverlust führen, indem sie empfindliche Haarzellen in der Cochlea zerstören. Jetzt zeigen Forscher, dass die Gabe von Kenpaullon Hörverlust vorbeugt. Das Gehör von Mäusen konnte so vor Lärm von bis zu 100 dB geschützt werden.
Laut WHO-Angaben leiden weltweit 360 Millionen Menschen unter Hörverlust. Dabei handelt es sich nicht nur um angeborene Defekte. Starker Lärm, aber auch ototoxische Arzneistoffe schädigen Haarzellen des Innenohres. Dazu gehören unter anderem Aminoglykosid-Antibiotika, platinhaltige Chemotherapeutika, manche Schleifendiuretika, manche nichtsteroidalen Antirheumatika und Chinolinalkaloide. Bakterielle oder virale Infektionskrankheiten können unserem akustischen Sinn ebenfalls Schaden zufügen. Bislang gibt es keine Arzneistoffe zur Prophylaxe des Hörverlusts. Deshalb hat der Neurobiologe Jian Zuo vom St. Jude Children’s Research Hospital in Memphis, Tennessee, mehr als 4.000 bekannte Arzneistoffe im Tierexperiment untersucht.
Der Forscher verabreichte Mäusen oder Ratten mit normalem Hörvermögen das Chemotherapeutikum Cisplatin. Daraufhin starben Zellen in der Cochlea ab und es kam zur chemisch induzierten Taubheit. Ob Tiere Geräusche wahrnehmen, lässt sich mit einer Clickbox leicht messen. Deren akustisches Signal ist für Mäuse unangenehm, aber für Menschen kaum wahrnehmbar. Zuo und Kollegen identifizierten mehrere bereits bekannte Moleküle, die tatsächlich schützende Eigenschaften hatten. Drei davon gehörten zu den CDK2-Inhibitoren. CDK2 (Cyclin Dependent Kinase 2, Cyclin-abhängige Kinase 2) ist ein Enzym, das auch im Menschen vorkommt. Es kontrolliert den Zellzyklus. Bislang war bekannt, dass sie als Tumorsuppressorgene wirken. Bei Funktionsverlust durch Mutationen im zugehörigen Gen können Zellen entarten. So ist es wenig überraschend, dass CDK2-Inhibitoren als mögliche Onkologika erforschen.
Kenpaullon. Grafik: Jü / Wikipedia, CC BY SA 4.0 In Bezug auf Hörverlust erwies sich Kenpaullon als besonders wirksam. Verabreichte Zuo Versuchstieren das Molekül vorab, zeigte Cisplatin keine ototoxischen Effekte mehr. Der CDK2-Inhibitor verhinderte, dass CDK2 die Produktion von reaktiven Sauerstoffspezies aus Mitochondrien der Zellen stimuliert. Er schützte auch das Gehör von Mäusen vor Lärm bis zu 100 dB – eine Größenordnung, die bei Konzerten oder in Discos durchaus erreicht wird. „Der robuste Schutz durch die einmalige lokale Gabe von Kenpaullon legt nahe, dass CDK2-Inhibitoren die Behandlung von Cisplatin- und Lärm-induziertem Hörverlust bei Patienten verändern“, hofft Zuo. „Veränderungen der Behandlungsschemata, bessere Darreichungsformen und strukturelle Modifikationen der Verbindung selbst könnten zu noch besseren Ergebnisse mit CDK2-Inhibitoren bei der Behandlung von Schwerhörigkeit führen.“
Kenpaullon ist außerhalb der Forschung recht unbekannt. Es gehört zur Klasse der Paullone mit einem Indolobenzazepinon-Gerüst. Ihr Name soll an Dr. Ken Paull, einen 1998 verstorbenen Chemiker am US National Cancer Institute, erinnern. Er hatte mit Datenbanken wichtige Tools geschaffen, die es ermöglichten, biologische Eigenschaften von Paullonen zu entdecken. Bislang gibt es mehr als 300 Derivate, aber keine einzige Zulassung. Das könnte sich durch Zuos Arbeit in einigen Jahren ändern.