Patienten mit systolischer Hypertonie verlieren gesunde Lebensjahre und sterben früher. Das konnten Forscher einmal mehr eindrucksvoll zeigen. Nur welcher Wert sollte erreicht werden – 140 mmHg oder doch besser 120 mmHg? An dieser Frage scheiden sich die Geister.
In regelmäßigen Abständen untersuchen Forscher, welche Risikofaktoren zum Tode führen. Jetzt haben sie eine neue Auswertung der „Global Burden of Disease“-Studie veröffentlicht. Das wenig überraschende Fazit: Arterielle Hypertonie steht nach wie vor an erster Stelle der weltweiten Negativliste.
Einige Details: Christopher J. Murray von der University of Washington hat zusammen mit Kollegen untersucht, welchen Einfluss 79 Parameter auf unsere Gesundheit haben. Als Endpunkt wählte er behinderungsbereinigte Lebensjahre (Disability-Adjusted Life Years, DALY). Das Konzept umfasst nicht nur verlorene Zeiten durch einen frühen Tod, sondern auch Beeinträchtigungen des normalen Lebens durch eine Krankheit. Murray bewertet die systolische Hypertonie wie schon in früheren Arbeiten als wichtigsten individuellen Risikofaktor für frühzeitige Todesfälle. Auf ihr Konto gehen 10,4 Millionen Todesfälle und 208,1 Millionen DALY. Dann folgen Tabakkonsum (6,1 Millionen vorzeitige Todesfälle, 143,5 Millionen DALY) und ein zu hoher BMI (4,4 Millionen vorzeitige Todesfälle, 134 Millionen DALY). Angesichts dieser Zahlen wird klar, welche Bedeutung einer antihypertensiven Therapie zukommt.
Auf dem letzten Kongress der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft (ESC) in London gingen Experten der Frage nach, welche Risikogruppen besonders im Fokus stehen sollten. Pro Jahr sterben in Europa etwa 77.000 Frauen und 253.000 Männer unter 65 Jahren an koronaren Herzerkrankungen (KHK) – ein gewaltiger Geschlechts-Unterschied. Um den Effekt verschiedener Einflussfaktoren zu untersuchen, half die Vorarlberger Gesundenuntersuchungs-Datenbank mit 117.264 Personen. Alle Teilnehmer wurden im Alter von weniger als 50 Jahren ohne Erkrankung rekrutiert. Über einen Zeitpunkt von 14,6 Jahren hinweg erfassten Kardiologen 3.892 Todesfälle aufgrund von KHK. Koautorin Professor Dr. Gabriele Nagel von der Universität Ulm zufolge erklärt der systolische Blutdruck 21,7 Prozent des Gender-Effekts. Dann folgt Cholesterin mit zehn Prozent. Bluthochdruck gilt folglich als wichtigster Faktor, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Männern unter 50 Jahren zu erklären. Deshalb sollten systolische Hypertonien rechtzeitig diagnostiziert und durch entsprechende Lebensstilveränderung oder medikamentöse Therapie behandelt werden, ergänzt Nagel.
An den Zielwerten scheiden sich wissenschaftliche Geister einmal mehr. Aktuellen Leitlinien zufolge ist ein systolischer Blutdruck unter 140 mmHg das erklärte Ziel – bei Patienten mit höherem oder niedrigerem kardiovaskulären Gesamtrisiko. Jetzt sorgen Zwischenergebnisse der SPRINT-Studie (Systolic Blood Pressure Intervention Trial) für kontroverse Diskussionen. Als Sponsoren treten die National Institutes of Health (NIH) in Erscheinung, was allzu starke industrielle Einflüsse eher unwahrscheinlich macht. Insgesamt nahmen 9.361 Patienten teil. Sie hatten kardiovaskuläre Erkrankungen (1.877 Personen) beziehungsweise Nierenleiden in ihrer Vorgeschichte (2.648) sowie einen systolischen Blutdruck über 130 mmHg. Ziel von SPRINT war, unterschiedliche Therapieregimes zu untersuchen: 140 mmHg, wie in aktuellen Leitlinien empfohlen, oder 120 mmHg. Als Endpunkt wählten Kardiologen Herzinfarkte, Herzinsuffizienzen, Schlaganfälle sowie kardiovaskulär bedingte Todesfälle. Senkten Ärzte den systolischen Blutdruck unter 120 mmHg, zeigten sich drastische Effekte. Die Mortalität verringerte sich um rund 25 Prozent, und die Rate kardiovaskulärer Ereignisse ging um etwa 30 Prozent zurück – jeweils verglichen mit konventionellen therapeutischen Zielen. Vor diesem Hintergrund mag es nicht verwundern, dass das Data Safety Monitoring Board eine Notbremsung veranlasst hat. Ursprünglich sollten alle Erhebungen erst im Jahr 2018 beendet werden. Der Unterschied zwischen Behandlungsgruppen sei bereits groß genug, schrieben Experten. Gary H. Gibbons, Direktor des National Heart, Lung, and Blood Institute (NHLBI), wittert „potenziell lebensrettende Informationen“ für Health Professionals, um Patienten besser zu versorgen. Er bewertet die Resultate als „Beitrag zur Entwicklung evidenzbasierter klinischer Leitlinien“. Zu Recht?
Die kürzlich veröffentlichte Zwischenauswertung hat wenigstens als PR-Gag ihr Ziel erreicht: Kardiologen diskutieren weltweit über Sinn und Unsinn neuer Grenzwerte, obwohl noch nicht einmal alle Daten veröffentlicht worden sind. Gerade bei Senioren führt eine starke antihypertensive Medikation schnell zu Schwindel und Benommenheit. Ein Sturz mit Todesfolge wäre bei den aktuell gewählten Endpunkten nicht berücksichtigt worden. Nehmen ältere Patienten bereits andere Arzneistoffe, geht ihre Reise stark in Richtung Polymedikation. Eingeschränkte Leber- und Nierenfunktionen machen die Sache nicht besser. Viele offene Fragen – warten wir auf die Veröffentlichung Ende 2015.