Skandinavische Länder sind bei epidemiologischen Studien und bei der medizinischen Versorgung unsere Vorbilder. Schweden hat jetzt in Corona-Zeiten aber nahezu alles falsch gemacht. Das ist meine Kritik.
In Deutschland werden die Corona-Leugner und Aluhutträger immer lauter. Sie protestieren gegen Einschränkungen im täglichen Leben (die ohnehin schon stark aufgeweicht wurden) und gegen eine Corona-Impfpflicht (die so in keinem Gesetzesentwurf zu lesen war). Was ohne den Lockdown passiert wäre, zeigt ein Blick nach Schweden.
Viele Entscheidungen der schwedischen Regierungen gehen auf Nils Anders Tegnells zurück. Er ist Arzt und Staatsepidemiologe bei der Behörde für öffentliche Gesundheit. Als Berater sprach er sich früh gegen einen Lockdown nach dem Vorbild anderer europäischer Nationen aus.
Schulen, Kitas, Geschäfte oder Restaurants blieben offen. Und Urlauber, die aus Risikogebieten zurück nach Schweden kamen, mussten nicht in Quarantäne. „Das Wichtigste, was wir jetzt machen können, ist zuhause bleiben, wenn wir uns krank fühlen. Das sagen wir jeden Tag und werden das weiter tun, solange die Epidemie anhält, denn das ist die Grundlage für alles, was wir tun“, sagt Anders.
Seine Strategie war, in Schweden eine Herdenimmunität aufzubauen – und zwar bis Mai. Ist in der Bevölkerung ein hoher Prozentsatz immun, kann sich ein Erreger nicht mehr verbreiten. Diese Strategie hat in einem anderen Kontext eine große Bedeutung. Ärzte versuchen bei altbekannten Erregern, große Teile der Bevölkerung durchzuimpfen. Denn auch so entsteht Herdenimmunität.
Schwedens Maßnahme hingegen lautete: Menschen über 70 sollten besser zu Hause bleiben. Alle anderen infizieren sich früher oder später und werden immun. So einfach lässt sich eine Strategie auch formulieren.
Vergleicht man Zahlen zu aktiven Infektionen, geht es in Schweden weiter linear nach oben. Und mehr als 4.000 Menschen sind in dem Land mit 10 Millionen Einwohnern gestorben. Meist handelte es sich um Senioren; viele von ihnen waren in Alten- oder Pflegeheimen. Von einem Kurswechsel wollte der Chefepidemiologe trotzdem nichts wissen.
In Deutschland beobachten Epidemiologen seit Mitte April sinkende Zahlen; die Trendwende ist längst überschritten. Es gab knapp 8.400 Todesfälle bei 83 Millionen Einwohnern.
„Ich denke, wir hätten mehr Zeit zur Vorbereitung benötigt“, sagte Annika Linde. Sie ist Tegnells Vorgängerin. „Hätten wir früh einen Lockdown gemacht, hätten wir in dieser Zeit sicherstellen können, dass wir das Notwendige zum Schutz der Schwachen tun können.“
Tegnell mag sich darüber freuen, dass in Stockholm mehr als ein Drittel der Bewohner Antikörper gegen SARS-CoV-2 gebildet hat. In anderen Regionen lag der Wert zuletzt zwischen 3,7 und 4,2 Prozent. Wenig überraschend hatten Menschen zwischen 20 und 64 Jahren öfter Immunität entwickelt (6,7 Prozent) als Personen über 65 (2,7 Prozent).
Bei Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahre waren es 4,7 Prozent. Viel Erkenntnisgewinn ergibt sich daraus nicht – vor allem nicht bei Kindern.
Dabei hätte Schweden viel zur Erforschung von SARS-CoV-Infektionen beitragen können. In den letzten Jahrzehnten kamen viele hochwertige Registerstudien aus Schweden. Nur bei Corona hat das System versagt.
Wir wissen aus China, aus den USA und nicht zuletzt aus Deutschland, wer ein hohes Risiko hat, an COVID-19 zu sterben: ältere Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Adipositas. Und Männer etwas häufiger als Frauen. Die Rolle von Kindern bei der Verbreitung von Viren indes bleibt unklar.
Sie erkranken seltener an COVID-19. Aber welche Rolle spielen sie bei der Übertragung? Und – damit verbunden – war es richtig, Kitas und Schulen zu schließen?
Genau diese Fragen hätten schwedische Forscher im Land klären können. Nur haben sie Infektionen bei Schulkindern nicht verfolgt – selbst wenn große Ausbrüche zur Schließung einzelner Schulen führten oder Mitarbeiter an der Krankheit starben.
„Es ist wirklich frustrierend, dass wir einige relativ grundlegende Fragen zur Übertragung und zur Rolle verschiedener Interventionen nicht beantworten konnten“, sagt Carina King, Epidemiologin für Infektionskrankheiten am Karolinska Institute.
Sie und mehrere Kollegen hätten ein Protokoll entwickelt, um Ausbrüche zu untersuchen, „aber der Mangel an Finanzmitteln, Zeit und früheren Erfahrungen bei der Durchführung dieser Art von Forschung in Schweden hat unsere Fortschritte behindert“.
Die Frage hat politischen Sprengstoff. Jonas Ludvigsson, ein Kinderarzt und Epidemiologe aus Schweden, forscht selbst auf dem Gebiet. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder „wahrscheinlich nicht die Haupttreiber“ der Verbreitung von SARS-CoV-2 sind. Hat er Recht? Das ist fraglich. Laut Science ist es in Schweden mehrfach zu Ausbrüchen in Schulen gekommen.
Daten aus China, Island und den Niederlanden zum Thema Kinder widersprachen sich oder waren statistisch nicht signifikant. In Deutschland sieht Prof. Christian Drosten von der Charité Berlin laut einem Preprint keine signifikanten Unterschiede zwischen Kindern, wenn es um die Verbreitung von Viren geht.
Was bleibt, ist Unsicherheit. Genau diese Lücke hätten schwedische Forscher schließen können. Eine vertane Chance. Wo bleibt Schwedens frühere Rolle als Vorreiter der epidemiologischen Forschung?Bildquelle: Ferhat Deniz Fors, unsplash