Fachgesellschaften fordern die komplette Öffnung von Kitas und Schulen. Ich finde das nicht falsch, die Forderung ist gut begründet. Und dennoch: Die Wiedereröffnung bleibt ein „In-vivo“-Versuch.
Die gestrige Stellungnahme der großen pädiatrischen Fachgesellschaften* ist äußerst lesenswert für alle Eltern, Fachleute und Kollegen. Sie beleuchtet sowohl den aktuellen Wissensstand rund um die COVID-19-Erkrankung bei Kindern, das Ansteckungs- und Erkrankungsrisiko und vergisst auch nicht mögliche Komplikationen, wie das beobachtete „Kawasaki-like“-Syndrom. Wir lesen außerdem über Vergleiche mit anderen europäischen Ländern und welche Infektionsrisiken dort beobachtet werden.
Natürlich schränkt die Stellungnahme ein, dass sich nach Ende des Shutdowns „eine sorgfältig durchgeführte und durch großzügige Testindikationen unterstützte prospektive Surveillance“ nicht erübrigt.
Ein wenig nach den aktuellen Hygiene-Demo-Argumenten klingt der Satz: „Schweres COVID-19 ist nach derzeitigem Kenntnisstand in Deutschland bei Kindern keinesfalls häufiger als viele andere potentiell schwer verlaufende Infektionserkrankungen bei Kindern, die nicht zur Schließung von Schulen und Kindereinrichtungen führen“. Die Aussage zielt damit auf den ermüdenden Vergleich der Grippesaison mit der aktuellen Lage ab.
Gleiche Wasser auf besagte Mühlen liefert auch die Äußerung, „dass vor und während der Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder und Jugendliche die Folgen für diese Bevölkerungsgruppe nicht thematisiert und die Betroffenen und ihre Fürsprecher nicht gehört wurden, womit die elementaren Rechte der Kinder missachtet wurden.“
Wir wissen weiterhin nicht viel über den Verlauf der Coronainfektionen in Gruppen, wir stützen uns auf die wissenschaftlichen Daten aus anderen Ländern, aber die komplette Öffnung der Kitas und Schulen bleibt trotz alledem ein „In-vivo“-Versuch, möge alles gutgehen. Als Kinder- und Jugendarzt möchte ich gerne die Position teilen, dass ein Fortsetzen des Shutdowns in den Betreuungseinrichtungen zu familiären Konflikten führen, die Schere der Entwicklung bei Kindern auseinanderziehen wird und die psychischen Folgen nicht auszumalen sind. Dennoch vertraue ich als Kinderarzt der Resilienz der kindlichen Psyche, mit der Belastung fertig zu werden. Jeder Tag länger beansprucht diese aber mehr, sicher.
There is no glory in prevention. So sehr wir uns alle die Wiederherstellung der Normalität herbeisehnen: Kein Kinder- und Jugendarzt, kein Erzieher, kein Lehrer, keine Eltern können mir erzählen, dass sie nicht auch zumindest ein klein wenig Zahnschmerzen haben, wenn es demnächst heißt, der Shutdown der Kitas und Schulen sei beendet. Was ist mit den Erziehern und Lehrern, die einer Risikogruppe angehören? Dies wird im obigen Paper leider nur am Rande erwähnt, die fielen ja unter die verstärkten Hygienemaßnahmen.
Sorgen bereitet uns in den Praxen die Angst der Erzieher vor einem „Einschleppen“ einer COVID-Infektion nach der Öffnung. Bereits jetzt kommen Anfragen nach „sicherheitshalber mal testen“, „negativem Corona-Test vor Schulbesuch“ oder sofortigem Ausschluss vom Kontakt mit anderen, wenn nur einmal gehustet oder geniest wird (was gerade jetzt in der Heuschnupfensaison oft vorkommt). Die Attestitis greift wieder um sich, weil jede einzelne Einrichtung selbst entscheiden muss, ob Kind XY der Besuch erlaubt werden darf oder nicht.
Damit beginnt die Erklärungsnot: Ein negativer Abstrich ist kein Garant für Infektionsfreiheit, es gibt genug symptomfreie Träger usw. usf. Genau die obigen Argumente für die Öffnung der Kitas können uns wieder auf die Füße fallen, wenn die Kitas (verständlicherweise) überreagieren aus Angst einer Mini-Epidemie.
*namentlich der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, die Deutsche Akadamie für Kinder- und Jugendmedizin, die Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie und die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene.
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