Zu Beginn der Corona-Krise hingen wir gebannt an den Lippen der Virologen, weil sie das Unfassbare zu erklären versuchten. Jetzt werden Wissenschaftler angefeindet, sogar Morddrohungen gab es schon. Was ist da nur los?
Bei speziellen Fragestellungen wendet man sich an Experten. Keiner würde mit kardiologischen Problemen zunächst einen Urologen aufsuchen oder wenn sein Auto streikt, im Baumarkt vorsprechen. Logisch. Warum aber wurden zu Beginn der Corona-Pandemie den Virologen so viel Gehör und Glauben geschenkt, jetzt dagegen wird ihnen in Talkshows und sozialen Medien die Kompetenz streitig gemacht?
Es ist Dienstagnachmittag, der 12. Mai – und damit Zeit für den 40. Podcast des Coronavirus-Updates mit Prof. Christian Drosten, Leiter der Virologie der Berliner Charitè und Mitentdecker von SARS-CoV-2.
Bereits 2003 gelang ihm die Entwicklung eines diagnostischen Tests auf das neu entdeckte SARS-Virus. Seither forscht Drosten an diesen Viren und kennt sie so gut wie kaum ein anderer Wissenschaftler weltweit. Woche für Woche stellt er sich den Fragen im Podcast und erklärt auf verständliche Weise hochkomplexe Themen rund um Corona. Anfangs wurde er für seine Öffentlichkeitsarbeit gefeiert. Nun erhält er Morddrohungen.
Es geht diesmal um das Thema „Jetzt ist Alltagsverstand gefragt“, aber auch um einen offenen Brief, den Drosten gemeinsam mit Wissenschaftlern und Ärzten aus aller Welt an Vertreter der sozialen Medien gerichtet hat. Darin fordern die Autoren die Unterstützung der sozialen Medien im Kampf gegen die sogenannte Infodemie, also die Verbreitung falscher und irreführender Informationen in der Corona-Pandemie.
Auch in Deutschland bekannte Namen, wie die Braunschweiger Virologin Prof. Melanie Brinkmann oder der Arzt und Kabarettist Eckart von Hirschhausen, sind dabei. Es geht um Fake News, die häufig in Form von Videos im Internet grassieren und millionenfach abgerufen werden. Falsche, nicht fundierte Aussagen, die von Personen hervorgebracht werden, die sich auf ihre teils medizinische Ausbildung berufen. Darunter sind auch Professoren, die nie in ihrem Leben in irgendeiner Form an diesen Themen gearbeitet haben, denen man aber aufgrund ihrer akademischen Ausbildung dennoch glaubt.
Auch seien, so Drosten, Verschwörungstheoretiker dabei, die schon vor der Pandemie über ganz andere Themen ihre Ansichten verbreitet haben. Mittlerweile konnte man diese Falschaussagen widerlegen. Es ginge dabei allerdings nicht, so der Virologe, um noch offene Bereiche, wie beim Thema der Kinderinfektion mit SARS-CoV-2. Dort fehlen aktuell Daten und die wenigen, nur teils soliden Ergebnisse werden von Wissenschaftlern leicht unterschiedlich interpretiert. Das sei gut und richtig so, denn jeder habe da seine Gründe.
Ein in den sozialen Netzwerken viel zitierter Auszug aus Drostens Podcast bringt es wie folgt auf den Punkt:
„Ich bin Virologe und würde mich nie zu einem bakteriologischen Thema äußern. Und das ist ja für den normalen Zuschauer fast dasselbe, Viren und Bakterien, für einen Wissenschaftler aber nicht. Es geht sogar viel weiter. Ich würde mich auch nicht trauen, mich innerhalb der Virologie in dieser Breite und in dieser Meinungsstärke zu einem anderen Virus als dem Virus, an dem ich hier arbeite, zu äußern. Man kann die Literatur und die Fachkenntnis in diesem Gebiet nicht kennen, wenn man nicht absoluter Spezialist ist. Das ist der einzige Grund, warum ich als Person überhaupt in der Öffentlichkeit stehe. Nicht weil ich besonders schlau bin oder weil ich besonders gut reden kann oder irgendetwas, sondern weil ich als Spezialist an genau diesen Viren arbeite. Und was ich höre, zum Teil auch von scheinbaren Fachleuten, die sind sicherlich auch Fachleute auf ihrem eigenen Forschungsgebiet oder waren es, während sie noch berufstätig waren, das entbehrt jeder Grundlage. Das sind Allgemeinplätze, die nicht über eine oberflächliche Kenntnis von Studenten-Lehrbuchwissen hinausgehen. Und mit dieser Wissensbasis posaunt man dann Videos in die Öffentlichkeit und stärkt den gefährlichen Verschwörungstheoretikern, die auch zum Teil politische Agenden haben, den Rücken. Das ist unverantwortlich.“
Ein gutes Werkzeug für den Laien wäre es, so Drosten, zu schauen, welche Fachkompetenz jemand hat. Wie hat sich derjenige spezialisiert, was hat er bislang zu genau diesem Thema veröffentlicht. Wichtig ist, ob die Fachcommunity in Deutschland oder weltweit diesen Fachexperten als solchen respektiert.
Prof. Karl Lauterbach, politischer Gesundheitsberater und studierter Epidemiologe in Harvard, wurde in den sozialen Medien schon mehrfach für seine Aussagen heftig kritisiert. Zuletzt auch für seine Zurückhaltung, was Restaurantöffnungen angeht, da infektiöse Aerosole noch über Stunden in geschlossenen Räumen kursieren und so eine Übertragung von SARS-CoV-2 ermöglichen können.
Drosten erklärt dieses Phänomen in seinem Podcast so: Beim Sprechen und Atmen entstehen Aerosole und Tröpfchen. Bedeutende Aerosol-Übertragungskomponenten sind kleinste Partikel in der Luft, die nicht wie bei der Tröpfcheninfektion im Umkreis von 1,5 Metern zu Boden fallen, sondern weiter in der Luft kreisen. Diese infektiösen Partikel können dann für mehrere Stunden in der Luft bleiben.
Drosten gibt Lauterbach damit völlig recht in seiner Einschätzung. Es gäbe hierzu zum einen mehrere Originalarbeiten, die das beweisen, zum anderen bereits eine Stellungnahme der Amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften. Lauterbach sei aus Drostens Sicht sehr belesen und was er in sozialen Medien von sich gibt, sei Stand der Dinge. Er informiere in der Öffentlichkeit mit richtigen Inhalten.
Diese Einschätzung eines Experten über die Informationstätigkeit eines anderen Wissenschaftlers ist ernst zu nehmen. Wer hingegen am 6. Mai 2020 Maischberger: Die Woche gesehen hat, fragte sich vielleicht beim Rededuell zwischen Lauterbach und Christian Lindner, wer hier tatsächlich Epidemiologie in Harvard studiert hat und wer es nur sehr gerne getan hätte.
Wichtig ist, dass Experten die Sachlage wissenschaftlich untersuchen, erklären und daraus Schlüsse ziehen. Die Sache mit dem Aerosol und dem Restaurantbesuch erklärt Drosten folgendermaßen:
Bei der Übertragung von SARS-Cov-2 geht man mittlerweile davon aus, dass etwa die Hälfte durch Aerosole geschieht, fast die andere Hälfte ist Tröpfcheninfektion, nur 10 % der Übertragung findet über Schmierinfektion statt. Alltagsempfehlungen mit häufigem Händewachen und Desinfizieren stehen damit nicht im absoluten Vordergrund. Gefährlich sei es, wenn Leute dicht an dicht in einem geschlossenen Raum sitzen.
Man könne aber aus dieser Erkenntnis etwas machen: Restaurants im Freien sollten nach Möglichkeit ausgeweitet werden, da der Außenbereich eine relativ sichere Zone darstellt. Warum nicht diesen Sommer, so Drosten, Bürgersteige wenn möglich mit in die Bestuhlung einbeziehen, sofern es niemanden behindert. Was den Innenbereich anbelangt, würde häufiges Fensteröffnen einen Verdünnungseffekt durch dezente Luftzirkulation bewirken und natürlich die Abstandsregelung ihren Beitrag zur Infektionsreduktion leisten.
Die richtigen Arbeitshypothesen müssen von Wissenschaftlern geliefert werden, danach dann ist Mitdenken und Alltagsverstand gefragt. „Man muss diesen Experten auch folgen und sie nicht attackieren“, so Drosten.
Bisher hat das Robert-Koch-Institut (RKI) während der Pandemie tägliche Pressebriefings abgehalten, die sehr informativ waren. Mittlerweile finden sie nur noch unregelmäßig statt.
Auch die Arbeit des RKIs lässt Christian Drosten in seinem 40. Podcast nicht unkommentiert:
„Wir sollten uns hier auf die Aussagen des RKI verlassen […]. Das Rumhacken auf dem RKI wird gerade zum Sport […]. Die Auflösungstiefe und der Informationsgrad, den das RKI jeden Tag einschließlich an Sonn- und Feiertagen von neuem liefert, ist so hoch, das finden Sie in kaum einem anderen Land in Europa in dieser Qualität. Aber es ist ja egal, man hackt trotzdem auf dem RKI herum, denn letztendlich haben wir ein Luxusproblem in Deutschland, die Intensivstationen sind leer und damit scheint es das ganze Problem ja gar nicht zu geben.“
Dem stimmt auch Prof. Heyo Kroemer, Leiter der Charitè – an der Robert Koch übrigens Ende des 19. Jahrhunderts die Forschung revolutionierte – in der Zeit zu: „Wir können in Deutschland froh sein, ein solches Institut zu haben. Das RKI hat in dieser Krise Außergewöhnliches geleistet.“
Ich denke, dass zu Beginn der Pandemie die Angst vor dem Virus in der Bevölkerung wesentlich größer war, als sie es momentan ist. Die Bilder aus Bergamo und New York sind verblasst, die Eskalation der Situation ist hierzulande Dank weiser Beschlüsse und hoher Disziplin bisher ausgeblieben.
Zu Beginn konnte man nicht genug von den wissenschaftlichen Einschätzungen der Virologen bekommen, nun werden ihre Warnungen, dass wir den guten Erfolg der Pandemiebekämpfung durch allzu schnelle Lockerungen wieder verspielen könnten, vielerorts in den Wind geschlagen.
Wissenschaftler analysieren aktuelle Forschungsergebnisse, auch Fehleinschätzungen tragen zum Erkenntnisgewinn bei. Seriöse Wissenschaft funktioniert so. Politiker, die in vorgezogener Wahlkampfstimmung Wissenschaftler diskreditieren, sind in meinen Augen nicht vertrauenswürdig.
Expertenmeinungen sind oft unbequem. Keiner hört es gerne, dass er sich besser operieren lassen sollte, ist aber im Nachhinein froh, wenn damit Schlimmeres verhindert wurde.
Keine Frage, die Kollateralschäden des Lockdowns, der im Vergleich zu Nachbarländern wie Frankreich oder Italien, in Deutschland allerdings nicht ganz so drastisch ausfiel, sind erheblich und müssen in alle Überlegungen miteinbezogen werden. Ein sensibles Abwägen, wie es ein Teil der Politiker gerade in Abstimmung mit Experten durchführt, ist aus meiner Sicht derzeit ein verantwortungsvolles Vorgehen. Noch wissen wir zu wenig über mögliche irreversible Schäden bei sogenannten Genesenen, wie die Uniklinik Innsbruck an ehemaligen Tauchern zu erkennen meint.
Abstandsregeln nicht einzuhalten und dichtgedrängt zu demonstrieren, ist kontraproduktiv. Stattdessen sollte man sich vielleicht eher einen Tag auf einer COVID-19 Station schildern und Röntgen-Thorax-Aufnahmen scheinbar Genesener erklären lassen. Oder sich die Berichte ehemals Erkrankter anhören, denen es immer noch nicht gut geht (jung und ohne Vorerkrankungen).
Solange weder ein Medikament, noch ein Impfstoff zur Verfügung stehen, ist gut daran getan, auf anerkannte Wissenschaftler zu hören und verantwortungsvollen informierten Politikern zu vertrauen.
Den offenen Brief von Drosten und Kollegen kann übrigens jeder, der im Gesundheitsbereich arbeitet, unterzeichnen.
Bildquelle: Nicholas Kwok, Unsplash