Junge Erwachsene mit einem niedrigen Ruhepuls haben einer Studie zufolge ein deutlich erhöhtes Risiko, später im Leben zu Gewalttätern oder zu Opfern von Verbrechen zu werden. Erweist sich die Messung der Herzfrequenz als neues Instrument zur Prävention von Gewalt?
In der am 9. September 2015 in JAMA Psychiatry veröffentlichten Studie [Paywall] werteten Dr. Antti Latvala und seine Kollegen von der Abteilung für Epidemiologie und Biostatistik am Karolinska-Institut in Stockholm, Schweden, die Daten von 710.264 schwedischen Männern aus. Bei diesen wurde im Alter von 18 Jahren bei der verpflichtenden Tauglichkeitsprüfung für den schwedischen Wehrdienst unter anderem der Ruhepuls gemessen. Indem die Forscher diese Daten mit anderen behördlichen Registern zu Straftaten, medizinischen Behandlungen und Todesfällen durch tätliche Angriffe und Unfälle verglichen, konnten sie einen Zusammenhang zwischen der Herzfrequenz in Ruhe und einem erhöhten Risiko für Verbrechen und Unfälle feststellen. Bei den Berechnungen wurden zahlreiche physische, kardiovaskuläre, psychiatrische, kognitive und sozioökonomische Einflussfaktoren berücksichtigt. Die durchschnittliche Herzschlagfrequenz in Ruhe betrug 72,2 Schläge pro Minute. Im Vergleich zu den Männern mit einem Ruhepuls im obersten Quartil (≥ 83 Schläge pro Minute) hatten die Männer mit einem Ruhepuls im untersten Quartil (≤ 60 Schläge pro Minute) ein um 39 % höheres Risiko, für Gewaltverbrechen verurteilt zu werden. Zudem wurden sie mit 25 % höherer Wahrscheinlichkeit für gewaltfreie Straftaten verurteilt. Weiterhin wiesen Männer mit niedrigem Ruhepuls ein um 39 % erhöhtes Verletzungsrisiko auf, und zwar sowohl für Verletzungen durch einen tätlichen Übergriff als auch für Unfallverletzungen. Bei einem Teil der Männer waren zudem Daten zur kardiorespiratorischen Fitness erhoben worden, deren Berücksichtigung aber keinen wesentlichen Einfluss auf die Ergebnisse hatte.
Die JAMA-Studie ist nicht die erste, die einen Zusammenhang zwischen Ruhepuls und aggressivem Verhalten herstellt, gleichwohl ist sie aber mit Abstand die umfassendste ihrer Art – die Fallzahl ist etwa 100 Mal größer als diejenige aller bisherigen Studien zusammen. Außerdem war bisher lediglich bekannt, dass ein niedriger Ruhepuls bei Kindern und Jugendlichen [Paywall] mit ausgeprägtem antisozialen und aggressiven Verhalten assoziiert ist. Dass es sich bei der Herzschlagfrequenz in der Jugend jedoch auch um einen Prädiktor für Gewalt mehr als 30 Jahre später handelt, ist dagegen eine neue Erkenntnis. Eine Erklärung dafür, warum der jugendliche Ruhepuls einen Risikofaktor sowohl für Gewalt als auch für Unfälle im Erwachsenenalter darstellt, können die Autoren mit ihrer Longitudinalstudie allerdings nicht liefern. Grundsätzlich sind jedoch zwei Modelle denkbar: Entsprechend der sogenannten Furchtlosigkeits-Theorie [Paywall] ist der niedrige Ruhepuls ein Anzeichen dafür, dass eine Person weniger Angst empfindet. „Manche Menschen begehen möglicherweise Straftaten, weil sie keine Angst vor den Konsequenzen einer Festnahme haben. Ein normales Maß an antizipatorischer Angst hält viele von uns ab, ein Verbrechen zu begehen“, erklärt Dr. Adrian Raine, Professor für Kriminologie, Psychiatrie und Psychologie an der University of Pennsylvania, USA. Die andere Hypothese geht dagegen davon aus, dass der Ruhepuls Ausdruck des Erregungszustands ist – Personen mit niedrigem Ruhepuls sind deshalb auf der Suche nach Reizen [Paywall], um ihr abnorm niedriges Erregungsniveau wieder auf ein normales Maß anzuheben. „Individuen, die impulsiv nach Stimulierung suchen, könnten ein risikoreiches soziales Umfeld bevorzugen und leichtsinnige Entscheidungen treffen, was sie anfällig für tätliche Angriffe macht“, erläutert Dr. Raine. „Für manche Jugendliche kann ein Weg zu mehr Erregung sein, einer Gang beizutreten oder einen Kampf anzuzetteln.“
In Deutschland gab es im Jahr 2014 180.955 polizeilich erfasste Fälle von Gewaltkriminalität, weltweit kommt es laut Angaben des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) jedes Jahr zu mehr als 4 Millionen dokumentierten Fällen von Körperverletzungen und zu mehr als 300.000 Morden. Wirksame Mittel zur Prävention von aggressivem Verhalten sind also dringend nötig. Doch sollten grundsätzlich alle Kinder und Jugendlichen auf ihren Ruhepuls gescreent werden, um mögliche Täter und Opfer von Gewalttaten frühzeitig zu identifizieren und so rechtzeitig präventive Maßnahmen ergreifen zu können? Der Selftracker könnte so ungewollt zum ordnungsstaatlichen Kontrollinstrument werden.
Es gibt Hinweise darauf, dass der Ruhepuls zu einem wesentlichen Anteil genetisch bedingt ist. Zudem konnte gezeigt werden, dass sich die Assoziation zwischen einem niedrigen Ruhepuls und antisozialem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen vollständig durch genetische Kovariation erklären lässt. Allerdings sind die genetischen Determinanten der Herzschlagfrequenz nur eines von vielen Puzzlestücken in der Frage nach den genetischen Risikofaktoren für psychopathologische Zustände. Zahlreichen Genen wurde bereits ein Einfluss auf antisoziales Verhalten und Aggression konstatiert, besonders Gene mit Einfluss auf das serotonerge und katecholaminerge System sind schon seit einiger Zeit ins Visier der Forscher gerückt. Bekanntheit über die Fachgrenzen hinaus erlangte beispielsweise das „Krieger-Gen“, welches X-chromosomal die Monoamin-Oxidase A (MAO-A) kodiert und eine wichtige Rolle beim Abbau von Serotonin und Noradrenalin im zentralen Nervensystem spielt. Eine geringe MAO-A-Aktivität wurde in mehreren [Paywall] Studien mit Impulsivität und gewalttätigem Verhalten in Verbindung gebracht. Es stellt sich daher grundsätzlich die Frage, ob eine genetische Veranlagung eines Täters als mildernder Umstand bei der Ermittlung des Strafmaßes berücksichtigt werden sollte [Paywall], oder ob bei einem Täter mit einer entsprechenden Prädisposition sogar vorsorglich Maßnahmen zum Schutz der Gesellschaft getroffen werden sollten. Eine 2014 veröffentlichte Meta-Analyse kommt jedoch zu dem Schluss, dass keine der bisher untersuchten Genvarianten ein zuverlässiger Prädiktor für aggressives Verhalten ist. Es scheint daher, als könnten nicht eines oder wenige Gene für Gewalt und Kriminalität verantwortlich gemacht werden. Stattdessen handelt es sich hierbei wohl um komplexe Verhaltensweisen, bei denen hunderte oder gar tausende Gene und die Umwelt miteinander wechselwirken. Die Autoren der Meta-Analyse schlussfolgern daher: „Jeder Ansatz, bei dem genetische Marker genutzt werden, um eine Risikovorhersage zu treffen, um die Verantwortung für ein Verbrechen zu mildern oder um die Behandlung von oder den Umgang mit bestimmten Individuen festzulegen, ist fragwürdig.“ Originalpublikation: A Longitudinal Study of Resting Heart Rate and Violent Criminality in More Than 700 000 Men [Paywall] Antti Latvala et al.; JAMA Psychiatry, doi: 10.1001/jamapsychiatry.2015.1165; 2015