Die magische Zahl heißt 50: Wenn es mehr als 50 Corona-Neuinfektionen je 100.000 Einwohner gibt, muss der Landkreis die Lockerungen zurücknehmen. Aber die Meldungen sind lückenhaft. Das ganze Konstrukt wackelt.
Die Bundesländer haben diese Woche zum Teil weitreichende Lockerungen der Kontaktbeschränkungen beschlossen. Die meisten sollen schrittweise bis Ende Mai in Kraft treten. In vielen Ländern sollen wieder mehr Kinder zur Schule gehen, weitere Geschäfte und Restaurants, Musikschulen, Bibliotheken, Freibäder und Zoos öffnen, kleinere Veranstaltungen und Konzerte unter freiem Himmel erlaubt werden.
Wo und wann welche Lockerungen in Kraft treten, liegt in der Verantwortung der Bundesländer. Eine Regel soll aber für alle gelten: Regionen, die mehr als 50 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Kalendertagen verzeichnen, sollen die strengen Kontaktbeschränkungen wieder einführen.
In drei Kreisen – Greiz in Thüringen, Coesfeld in Nordrhein-Westfalen und Steinburg in Schleswig-Holstein – ist das derzeit der Fall (Stand Sonntag, 11:30 Uhr). Und es gibt weitere Regionen, die nur knapp unter der Marke liegen.
Unabhängig davon, dass bei einigen Experten die Sinnhaftigkeit der Zahl 50 umstritten ist, gibt es noch ein viel größeres Problem. Die Gesundheitsämter sind überfordert. Die Mehrheit der 400 Gesundheitsämter meldet dem RKI nicht, ob sie ausreichend Kapazitäten haben, Corona-Infizierte zu betreuen. Das geht laut NDR, WDR und SZ aus einem vertraulichen Lagebericht hervor.
Von insgesamt 401 Landkreisen haben nur 158 gemeldet, dass ihre Kapazitäten ausreichen. Und zwei Landkreise haben mitgeteilt, dass sie Unterstützung benötigen, um die Kontaktverfolgung zu gewährleisten. 241 Landkreise haben jedoch gar keine Meldung erstattet. Das heißt: Bei über der Hälfte der Gesundheitsämter kann das RKI demnach nicht sicher wissen, ob die vorhandenen Kapazitäten ausreichen, heißt es bei der Tagesschau.
Doch eine Kontrolle des Ausbruchsgeschehens kann nur erfolgen, wenn Meldungen konsequent durchgeführt werden, wenn Infizierte lokal schnell erkannt werden und wenn Kontaktpersonen aufgespürt und isoliert werden.
Eine andere investigative Recherche deckt hier weitere Lücken auf: In Zusammenarbeit mit mehreren Lokalzeitungen hat das Science Media Center eine Stichprobe von 109 Gesundheitsämtern aus allen Bundesländern gefragt: Welche Kontaktpersonen werden ermittelt? Wer wird getestet? Welche Personen werden isoliert, wie setzen die Ämter die sogenannte „gesundheitliche Überwachung“ um und: Ist all das mit den vorhandenen Ressourcen überhaupt umsetzbar?
49 Gesundheitsämter haben die Fragen beantwortet. Die meisten anderen haben aus Gründen der Überlastung abgesagt. Allein aus dieser Absage lassen sich erste Schlüsse ziehen. Die Auswertung der eingegangenen Antworten zeigt zwar, dass die Gesundheitsämter meist die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts umsetzen und in einigen Fällen sogar übererfüllen. Trotzdem bleiben laut Experten Löcher im Netz der Infektionskontrolle, durch die SARS-CoV-2-Infizierte unerkannt hindurchschlüpfen könnten.
Insgesamt entstehe der Eindruck, so Prof. Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, „dass die Gesundheitsämter sehr unterschiedlich gut aufgestellt sind, neu auftretende Infektionshäufungen rasch wieder einzudämmen. “
Die Ärzte in den Gesundheitsämtern finden den Wert von 50 Neuinfektionen zu hoch, heißt es im Deutschlandfunk. Ihre Verbandsvorsitzende Teichert sagte, es sei ihr ein Rätsel, wie die Gesundheitsämter damit klar kommen sollten. „Das ist nicht zu schaffen. Die Gesundheitsämter werden ohne dauerhafte Personalunterstützung in die Knie gehen“.
Die Ämter hätten ihre Arbeit in den vergangenen Wochen oft nur geschafft, weil das Personal unter anderem durch Medizinstudenten und viele Freiwillige verdrei- bis vervierfacht worden sei. Doch diese Aushilfskräfte seien nun teilweise schon wieder weg, weil sie ins Studium oder in ihren eigentlichen Job zurückgekehrt seien.
Diese Sorge teilt der Epidemiologe Mikolajczyk von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: „50 Neuinfektionen pro 100.000 pro Woche erscheint weit über den derzeitigen Kapazitäten der Gesundheitsämter.“
Sind die drei Landkreise – Greiz, Coesfeld und Steinburg – der Beginn der zweiten Welle? Die Pandemie in Deutschland gewinnt möglicherweise wieder an Dynamik. Die Reproduktionszahl stieg auf einen Wert von mehr als eins. Das teilte das RKI in seinem täglichen Lagebericht am Sonntag mit.
Die Experten schätzen den Wert demnach auf 1,10. Am Freitag war er vom RKI noch auf 0,83 geschätzt worden. Das RKI hatte immer wieder betont, dass die Reproduktionszahl unter eins liegen müsse, um die Epidemie abflauen zu lassen.
Bildquelle: Robert Bye, Unsplash