Manche Länder legen fest, was dem Sozialsystem ein Lebensjahr wert ist. Sie sind nicht bereit, Kosten ohne jede Grenze zu tragen. Das Thema ist relevanter denn je, denn die Ausgaben für teure Medikamente zur Behandlung von Krebs und seltenen Erkrankungen steigen immer weiter. Wie ist es in Deutschland?
Im letzten Jahr mussten gesetzliche Krankenkassen laut Arzneiverordnungs-Report 2018 für Medikamente und Zuzahlungen insgesamt 39,9 Milliarden Euro ausgeben. Das sind 1,4 Milliarden Euro bzw. 3,7 Prozent mehr als im Vorjahr. „Einige Krankheitsgruppen zeichnen sich dadurch aus, dass sie besonders geringe Verordnungsmengen haben, aber sehr teure patentgeschützte Arzneimittel eingesetzt werden“, sagt Jürgen Klauber vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO). Dem Experten zufolge seien für Krebs, virale Infektionen und schwere Erkrankungen des körpereigenen Abwehrsystems 34 Prozent aller Ausgaben verwendet worden – bei nur einem Prozent aller verordneten Tagesdosen. Einmal mehr wird Kritik am deutschen Preissystem laut. Doch sind die Alternativen wirklich besser?
Andere Regionen, etwa Australien, die Niederlande, England oder Schweden, arbeiten mit einem knallharten Ansatz. Sie legen fest, was dem Sozialsystem ein Lebensjahr wert ist. Als Größe arbeiten sie mit dem qualitätskorrigierten Lebensjahr (quality-adjusted life year, QALY). Diese oft verwendete Größe in der Gesundheitsökonomie berücksichtigt nicht nur Leben oder Tod, sondern auch die Lebensqualität inklusive möglicher Einschränkungen. Während viele Regionen eher informell mit QALYs arbeiten, setzt das britische System 20.000 bis 30.000 Pfund (23.000 bis 34.000 Euro) als Obergrenze pro QALY an. „Die utilitaristische Denkweise, wie sie dem britischen Konzept zugrunde liegt, würde in Deutschland nicht akzeptiert werden“ , sagte Peter Sawicki. Er war lange Jahre Chef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).
„In Großbritannien haben Ärzte Schwierigkeiten, sollten bei Krebspatienten First-Line-Therapien nicht anschlagen“, bestätigt Dr. John Geers (Name geändert). Der Onkologe aus London berichtet DocCheck von seiner Patientin Sally (32) mit fortgeschrittenem Kolonkarzinom. Experimentelle Therapien wurden vom NHS nicht bewilligt. Ihr Arzt kritisiert Bemessungsgrundlagen des National Institute for Health and Care Excellence (NICE), einer Institution zur Bewertung neuer Therapien: „Wenn ein Medikament 50.000 Pfund mehr kostet als die Alternative und dem Patienten sechs Monate mehr Leben bei guter Gesundheit beschert, würde es 100.000 Pfund pro gewonnenem QALY kosten.“ Andere signifikante Vorteile würden möglicherweise nicht von QALYs erfasst. Auf Nachfrage bestätigt ein Sprecher des NICE, sein Institut vertrete die Ansicht, dass Ausgaben in einer Größenordnung von 20.000 bis 30.000 GBP pro gewonnener QALY kosteneffizient seien. Er betont, solche Berechnungen seien wichtig, um die Kosteneffizienz neuer Therapien zu beurteilen. „Wir überprüfen regelmäßig unsere Ansätze zur Beurteilung von Medikamenten, um sicherzustellen, dass sie robust sind und den neuesten Erkenntnissen entsprechen.“ Das Prinzip ist weit verbreitet, wenn auch mit unterschiedlich hohen Ausgaben pro QALY. Solche Zahlen trösten im Ernstfall niemanden.
„Sollte bei Patienten mit metastasierendem Krebs die Erstlinientherapie fehlschlagen, haben Ärzte ein ernstes Problem“, bestätigt Melanie Newman, eine Wissenschaftsjournalistin aus London. Sally, die Patientin mit Kolonkarzinom, verkaufte also ihr Haus und nahm Kredite auf, um sich von Ärzten der umstrittenen Hallwang-Klinik in Deutschland behandeln zu lassen. Dort behandelen Ärzte Krebspatienten mit einer Kombination aus experimenteller Immuntherapie, Peptidvakzinen, die das Immunsystem trainieren sollen, um Krebszellen anzugreifen, und ungeprüften Therapien. Zu den angebotenen Medikamenten gehören Bevacizumab als Angiogenese-Hemmer und Checkpoint-Inhibitoren wie Pembrolizumab bzw. Ipilimumab. Die Kosten sind hoch: Ein Patient musste Newman zufolge für die initiale Therapie mehr als 100.000 Euro bezahlen. Sally selbst kam finanziell an ihre Grenzen, erinnerte sich jedoch an britische Crowdfunding-Portale. Laut Zahlen der Good Thinking Society, einer NGO, wanderten seit 2012 rund 8 Millionen britische Pfund über diesen Weg von engagierten Bürgern zu Krebspatienten. Davon seien allein 4,7 Millionen Pfund an die Hallwang-Klinik in Deutschland gegangen. JustGiving, eines der wichtigsten Portale, berichtet über 2.300 Fundraising-Campagnen in 2016. Das entspricht einer Steigerung um das Siebenfache gegenüber 2015. Für Sally brachte die Geldspritze keine Hilfe, sie starb. „Wir sind besorgt, dass so viele Patienten im Vereinigten Königreich riesige Summen für Behandlungen aufbringen, die nicht evidenzbasiert sind und die ihnen in manchen Fällen sogar schaden können“, sagt Michael Marshall, Projektleiter bei der Good Thinking Society. Dazu gehören Vitamin C-Injektionen, Basentherapien oder obskure Diätpläne. „Wenn diese Plattformen weiterhin vom Wohlwollen ihrer Nutzer, sprich von Gebühren profitieren, die sie für jede ihrer Spendenaktionen verlangen, müssen sie dafür sorgen, dass sie die Ausbeutung vulnerabler Personen unterbinden.“
In Deutschland können wir uns glücklich schätzen, nicht auf seltsame Geldquellen angewiesen zu sein. Es gibt auch keinen indikationsübergreifenden Schwellenwert, sprich keine Kostenobergrenze unabhängig von der Art der Erkrankung, wie beispielsweise in England. „Diese Gewinnmaximierungsethik führt beispielsweise dazu, dass Krebspatienten das teure Medikament Avastin nicht bekommen können, weil die Kosten im Verhältnis zur Lebensverlängerung als zu hoch erscheinen", so Sawicki. Andererseits bekämen Diabetes-Patienten Insulinanaloga „trotz ihres fraglichen Zusatznutzens erstattet, weil die höheren Kosten im Vergleich zum vermeintlichen Zugewinn an Lebensqualität als angemessen erscheinen“. Um den Benefit zu bestimmen, arbeitet Deutschland mit der „frühen Nutzenbewertung“. Pharmazeutische Hersteller übermitteln dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) alle relevanten Studien. Das Dossier wird zur Bewertung meist an das IQWiG übermittelt. Dort prüfen Experten, ob der neue Wirkstoff einen Vorteil gegenüber der Standardtherapie bezüglich patientenrelevanter Endpunkte hat. Patientenrelevante Endpunkte sind Mortalität, Morbidität, die gesundheitsbezogene Lebensqualität und Nebenwirkungen. Nicht immer haben Ärzte und Patienten die gleichen Ziele. Bei Depressionen wollen Betroffene, dass ihre Beschwerden nachlassen, während Mediziner eher Remissionen im Blick haben. Sogenannte Surrogatparameter wie Laborwerte sind in der Regel nicht bewertungsrelevant, auch wenn sie für die Zulassung des Arzneimittels ausreichend waren. Die Gesamtaussage zum Zusatznutzen ergibt sich aus der Abwägung etwaiger Vorteile (z.B. weniger Folgekomplikationen) und Nachteile (z.B. mehr Nebenwirkungen). Anschließend entscheidet der G-BA über den Zusatznutzen. Diese Information spielt eine wichtige Rolle bei Verhandlungen der Hersteller mit dem GKV-Spitzenverband, um Erstattungsbeträge festzulegen.
Sollte es keine Vergleichstherapien geben, stehen Deutschlands Patienten immer noch gut da. Am 6. Dezember 2005, dem Nikolaustag, musste das Bundesverfassungsgericht über eine Beschwerde zur Therapie der Muskeldystrophie Typ Duchenne entscheiden (Az.: 1 BvR 347/98). Es gibt experimentelle Therapien, aber keine zugelassenen Wirkstoffe. Grund genug für die Kasse, keine Kosten zu übernehmen. Richter redeten jedoch Klartext und forderten mit ihrem „Nikolausurteil“ die Kasse zur Kostenübernahme auf. Die Behandlung muss jedoch eine gewisse Aussicht auf Heilung oder Linderung der Symptome haben. Unter diesen Voraussetzungen sei keine Leistungsablehnung möglich.