Mehr Freiheiten für Menschen mit SARS-CoV-2-Antikörpern: Trotz offener Fragen plant Spahn die Einführung eines Immunitätsausweises. Davon halte ich wenig.
Auch während der SARS-CoV-2-Pandemie hält Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) so manche Überraschung bereit. Sein nächster Schnellschuss: mehr Freiheiten für Menschen mit SARS-CoV-2-Antikörpern. Anscheinend ist eine Lockerung von Kontakt- oder Arbeitsverboten für jene Menschen geplant, die bereits eine Corona-Infektion durchgemacht haben. Spahn und seine Kollegen arbeiten im Hintergrund an einem Gesetz für Immunitätsausweise. Laut der Süddeutschen Zeitung soll es schon einen Entwurf dafür geben. Was mich daran stört:
Bekanntlich arbeiten Labors zur Akutdiagnostik mit PCR-Tests. In der Woche 17 haben Labors des Verbunds ALM knapp 300.00 dieser Untersuchungen durchgeführt. Hinzu kamen rund 56 IgG-Antikörpertests. Diese sind wegen der Kreuzreaktivität umstritten. Denn andere Coronaviren, die etwa banale Erkältungen auslösen, stören. Auch erlauben IgG-Tests keine Aussagen zur Immunität. Um neutralisierende Antikörper gegen SARS-CoV-2 nachzuweisen, brauchen Ärzte ELISA-Tests. Viele Hersteller arbeiten daran, außerdem gibt es zur generellen Machbarkeit einen Preprint. Doch wann solche Tests auf den Markt gelangen, ist ungewiss.
Das nächste Problem: Wie viele Tests brauchen wir eigentlich? Laut Robert Koch-Institut haben sich bundesweit insgesamt 163.175 Menschen infiziert, und 6.692 sind gestorben (Stand 4.5.2020, 00:00 Uhr). Nehmen wir hypothetisch eine ebenso hohe Dunkelziffer aufgrund symptomloser Infektionen an, landen wir bei 350.000 bis 400.000 Menschen mit neutralisierneden Antikörpern – bei einer Gesamtbevölkerung von 83 Millionen Menschen.
So lange es keine Impfung gibt, würde man dementsprechend fast alle Menschen im Abstand mehrerer Wochen oder Monate testen müssen. Und schon sind wir bei einer Zahl knapp im Milliardenbereich gelandet. Eine Realisierung ist hier schwer vorstellbar. Erst Vakzine würden dem Spuk rasch ein Ende bereiten. Dann könnte es gelingen, viele Menschen zu immunisieren – vorausgesetzt, die Impfstoffproduktion lässt sich hochskalieren.
Unklar ist auch, was ein solcher Nachweis tatsächlich bringt. Voraussetzung für die Einführung eines Impfausweises sei, dass wissenschaftliche Beweise dafür vorlägen, dass sich Menschen nach einer Corona-Erkrankung nicht wieder anstecken können, sagt Spahn. Aber: „Bis zum 24. April 2020 hat keine Studie untersucht, ob das Vorhandensein von Antikörpern gegen SARS-CoV-2 die Immunität gegen eine nachfolgende Infektion mit diesem Virus beim Menschen verleiht“, schreibt die Weltgesundheitsorganisation WHO in einer Stellungnahme. Eine Antwort auf diese Frage sollte Grundvoraussetzung für alle weiteren Schritte in Richtung Immunitätspass sein.
Doch auch aus technischer Sicht sind längst nicht alle Fragen geklärt. Wie würde man etwa so einen Impfausweis sicher erstellen? Denkbar wäre, Immunitätsausweise mit der Blockchain-Technologie umzusetzen. Nach jeder Untersuchung wird an einen Datensatz mit kryptographischen Verfahren ein neuer „Block“ angehängt. Diese Bits und Bytes sollen pseudonymisiert in einer Cloud abgelegt werden – DSGVO-konform, versteht sich. Patienten entscheiden, wer Zugriff bekommt und wer nicht.
Ulrich Kelber, seines Zeichens Bundesdatenschutzbeauftragter, ist jedoch skeptisch. „Bei jeder Form von Immunitätsnachweisen handelt es sich um Gesundheitsdaten, die besonders zu schützen sind“, so Kelber. „Auf keinen Fall dürfen solche Daten missbraucht werden oder zu Diskriminierung führen.“ Dies sei zu befürchten, falls Geschäfte oder Dienstleister die Nutzung von Angeboten von einem Immunitätsnachweis abhängig machten.
Seine Zweifel sind gerechtfertigt. Wie Heise online nämlich berichtet, arbeiten die Bundesdruckerei, Lufthansa Industry Solution, die Boston Consulting Group, Ubirch, die Universitätsklinik Köln, das Gesundheitsamt Köln und weitere Partner bereits an einer technischen Lösung. Die Industrie hat größtes Interesse, zu entscheiden, wer wieder zurück an den Arbeitsplatz, zum Fußballspiel oder ab Bord eines Flugzeuges darf. Überraschend ist der Aktionismus zum jetzigen Zeitpunkt, sprich ohne ein vorliegendes Gesetz.
Inwieweit die Technik zu hacken ist, sollen Experten beurteilen. Ich befürchte Manipulationen von ganz anderer Seite: So lange es keinen Impfstoff gibt, könnten sich Menschen mutwillig infizieren. Denn wer Antikörper hat, kommt in den Genuss von Lockerungen. Dieses Risiko sollte bedacht werden. Auch, weil bei vielen Menschen die Aussage hängen bleibt, dass SARS-CoV-2 einer leichten Grippe gleiche. Das mag für den Großteil gesunder junger Menschen gelten, für Risikopatienten aber nicht. Letzteres betrifft eine große Menschengruppe, die man durch eine mutwillige Infektion mit dem Coronavirus in Gefahr bringen würde.
Mein Fazit: Noch sind zu viele Punkte wissenschaftlich und technisch ungeklärt, um auf die Schnelle Immunitätsausweise umzusetzen. Besser wäre, dem Druck der Bevölkerung nicht nachzugeben und den Lockdown in gewissem Maße aufrechtzuerhalten.
Bildquelle: Dallas Reedy, unsplash