Bis es einen Impfstoff gegen SARS-CoV-2 gibt, könnte ein Tuberkulose-Vakzin die Zeit überbrücken. Das Immunsystem soll durch den Lebendimpfstoff „trainiert“ werden. Es laufen bereits Tests an medizinischem Personal.
Wissenschaftler vermuten schon seit Jahren, dass Lebend-Impfstoffe wie die BCG-Impfung gegen Tuberkulose den Körper nicht nur gegen den geimpften Erreger stark machen, sondern auch eine unspezifische Reaktion des Immunsystems hervorrufen können, die vor weiteren Erregern schützt. Auch in der jetzigen Pandemie könnte so eine Impfung das Immunsystem besser für eine SARS-CoV-2-Infektion wappnen, vermuten Forscher.
RKI-Chef Lothar Wieler erwähnte auf einer Pressekonferenz kürzlich den Tuberkulose-Impfstoff als möglichen Grund, warum es in Ostdeutschland so wenige COVID-19-Fälle gibt. Hier ist die Tuberkulose-Impfquote besonders hoch. „Diese Hypothese wird von manchen Wissenschaftlern in den Ring geworfen, sie ist nicht belegt“, wird Wieler in Medien zitiert.
Die Hypothese wird in einer aktuellen Veröffentlichung in The Lancet diskutiert. Darin verweisen die Autoren auf verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, dass die BCG-Impfung (nach dem Erreger Bacillus Calmette-Guerin) das Risiko für Atemwegserkrankungen reduzieren könne. Unter anderem zeige eine Untersuchung in Guinea-Bissau, einem Land mit hoher Kindersterblichkeit, dass dort die BCG-Impfung die Mortalität bei untergewichtigen Neugeborenen um 38 % senke. Dabei gingen vor allem Todesfälle durch Lungenentzündungen und Sepsis zurück.
Laut der Forscher ist der Grund für diese Off-Target-Effekte inzwischen aufgeklärt: BCG-Impfungen lösen metabolische und epigenetische Veränderungen aus, die die angeborene Immunanantwort auf nachfolgende Infektionen vorbereitet und stärkt. Die Autoren sprechen vom Prozess der „trainierten Immunität“.
Ob die BCG-Impfung auch im Fall der Corona-Pandemie helfen könnte, wird derzeit in klinischen Studien in den Niederlanden und Australien untersucht. Auch in Deutschland wird das Verfahren jetzt an 1.000 Teilnehmern getestet, die beruflich mit dem Corona-Virus in Kontakt kommen – Ärzte sowie das Personal im Pflege- und Rettungsdienst.
VPM 1002 heißt das am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie hergestellte Präparat. „VPM 1002 ist die gentechnologisch verbesserte Variante eines jahrzehntealten Impfstoffs, der in vielen Ländern zur Bekämpfung des Tuberkulose-Erregers eingesetzt wird“, sagt Professor Dr. Christoph Schindler von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in einer Pressemitteilung.
„Im Idealfall verringert die Impfung die Wahrscheinlichkeit, an Corona-Virus-Disease zu erkranken“, erklärt Schindler. Der Wirkstoff gelange über das Blut in die Lymphknoten und verändere dort die körpereigenen Abwehrzellen. Wenn dann SARS-CoV-2 die Lunge befällt, werden Leukozyten aktiv. Diese bekämpfen die Viren in der Lunge und hindern sie daran sich zu vermehren – wenn alles gut läuft.
Geimpftes Klinikpersonal wäre zwar nicht gegen SARS-CoV-2 immun, könnte dank der auch gegen Virusinfektionen gestärkten Abwehrzellen aber besser geschützt sein und es gäbe weniger Ausfälle in der Krankenversorgung. Kommt es doch zu einer Infektion, könnte die verbesserte unspezifische Immunantwort den Verlauf der COVID-19-Symptome deutlich abschwächen und sogar dann noch helfen, wenn sich das Corona-Virus verändern sollte, hofft der Mediziner. Das käme auch Risikopatienten zugute, etwa vorerkrankten oder älteren Menschen.
Falls sich in den Studien zeigt, dass die Geimpften tatsächlich weniger häufig oder weniger schwer an COVID-19 erkranken, könnten in wenigen Monaten Risikogruppen wie Klinikpersonal und besonders gefährdete Menschen mit VPM 1002 geimpft werden.
Die Autoren der Lancet-Veröffentlichung mahnen aber auch zur Vorsicht. Solange unklar ist, ob und wie gut eine BCG-Impfung vor dem Coronavirus schützt, solle man sie ausschließlich in kontrollierten Studien einzusetzen. Die Forscher nennen dafür verschiedene Gründe: Zum einen herrsche schon jetzt ein Versorgungsengpass beim BCG-Impfstoff. Das könnte Kinder in Risikogebieten gefährden, die Impfung dringend brauchen.
Auch auf die Schilderungen aus Gegenden wie Ostdeutschland gehen sie ein: Hier liegt eine besonders hohe BCG-Impfquote vor und gleichzeitig gibt es wenig COVID-19-Erkrankte. Das reiche als Beleg aber nicht aus. Die Forscher halten es für unwahrscheinlich, dass vor Jahrzehnten in der Kindheit verabreichte Impfung heute noch einen relevanten Effekt haben.
Doch sollte sich ihre Wirkung bestätigen, so die Autoren, könne die Impfung ein Instrument sein, um auch bei zukünftigen Pandemien die Zeit bis zu einem zielgerichteten Impfstoff zu überbrücken.
Bildquelle: Tim Bogdanov, Unsplash