Der ASS-Nutzen zur Sekundärprophylaxe kardialer und cerebral-ischämischer Ereignisse ist längst durch Studien untermauert. Aktuell empfehlen US-Kommissionen ASS zur Primärprophylaxe. Es bleibt abzuwarten, ob die neuen Daten hierzulande überzeugen werden.
ASS hemmt die Bildung von Thromboxan A2 (TXA2) und mehreren Prostaglandinen, beispielsweise PGE2 und PGI2. ASS legt irreversibel die Cyclooxygenase 1 der Thrombozyten lahm. Die Blutplättchen können nun kein Prostaglandin H2 mehr bilden und somit bleibt die Umwandlung in TXA2 aus. Obwohl ASS nur eine Halbwertzeit von etwa 5 Stunden hat, wirkt es sieben bis 10 Tage. Dies entspricht der Lebensdauer der Thrombozyten. Außerdem wirkt ASS auf die NOase. NO (Stickstoffmonoxid) ist ein gasförmiges Hormon, das am Herzen, im Endothel, der Galle, den Thrombozyten und im penilen Schwellkörper vorkommt. ASS kann unter diesem Gesichtspunkt als NO-Donator betrachtet werden, wie auch Nitroglycerin, Molsidomin und die PDE5-Hemmer.
Unbestritten ist die Wirkung von ASS zur Sekundärprophylaxe, also zur Gabe nach einem ischämisch-cerebralen oder kardialen Ereignis. Der Hersteller des Originals, die Firma Bayer, versuchte seit längerer Zeit, die Substanz auch zur Primärprophylaxe zu etablieren. Die Datenlage hierzu reichte bisher aber den Zulassungsbehörden in Deutschland nicht aus. Während die antithrombotische Therapie mit Acetylsalicylsäure (ASS) nach Herzinfarkt als evidenzbasiert etabliert ist, ist ihr Stellenwert in der Primärprävention bei Patienten ohne bekannte kardiovaskuläre Erkrankung umstritten. Noch vor einem Jahr war die FDA nicht der Ansicht, dass die Datenlage für eine Empfehlung zur Primärprävention mit ASS ausreicht. Sie erteilte Bayer eine klare Absage.
Rechtfertigt ein möglicher präventiver Nutzen das zwar geringe, aber relevante Risiko schwerer Blutungskomplikationen? Die japanische offene, randomisierte Multicenter-JPPP-Studie (Japanese Primary Prevention Project) untersuchte die Wirkung von ASS zur Primärprophylaxe an rund 15.000 männlichen und weiblichen Probanden. Eine Gruppe erhielt täglich 100 mg ASS, die andere wurde nicht (zusätzlich) behandelt. Primäre Studienendpunkte waren Herzinfarkte und ischämische und hämorrhagische Insulte. Sekundäre Endpunkte waren extrakranielle Blutungen, die eine Bluttransfusion und/oder eine Klinikeinweisung erforderlich machten. Die Studie an den 60- bis 85-Jährigen sollte ursprünglich sechseinhalb Jahre durchgeführt werden. Nach fünf Jahren wurde die Studie abgebrochen, weil kein signifikant besseres Abschneiden einer der beiden Gruppen dokumentiert werden konnte. In beiden Gruppen starben 56 Menschen, in der ASS-Gruppe traten nicht-tödliche Schlaganfälle leicht vermehrt auf (114 vs 108), Herzinfarkte jedoch vermindert (20 vs 38). Das Risiko extrakranieller Blutungen als sekundärer Endpunkt war unter ASS signifikant erhöht (Hazard Ratio 86). Da unter dem Strich kein Patient mehr überlebte, sahen die Autoren der Studie keinen Nutzen. Die Ergebnisse lassen sich aber auch verhalten positiv formulieren: Unter den Überlebenden waren deutlich weniger Patienten mit einem Herzinfarkt.
In Amerika wird ASS vielfach von Gesunden eingenommen, um ischämischen Ereignissen vorzubeugen. In Deutschland empfiehlt man dies nur bestimmten Zielgruppen. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie sieht einen Nutzen für Betroffene, deren 10-Jahres-Risiko für ein akutes Koronarsyndrom oder einen Schlaganfall bei über 20 Prozent liegt. Dies kann mit dem PROCAM-Rechner statistisch evaluiert werden. Eine Ausnahme bildet ebenfalls die Leitlinie des American College of Chest Physicians. Sie empfiehlt Low-Dose ASS mit 75–100 mg täglich für alle Patienten, die älter als 50 sind, auch wenn sie keine symptomatischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben. Auch die Leitlinie der US Preventive Services Task Force rät zur Einnahme von ASS für Männer im Alter von 45 bis 79 Jahren zur Herzinfarktprävention und für Frauen im Alter von 55 bis 79 Jahren zur Vorbeugung von Schlaganfällen. Voraussetzung ist, dass die möglichen Vorteile die Risiken, etwa durch gastrointestinale Blutungen, überwiegen.
Eine weitere Risikogruppe für eine Primärprophylaxe könnten Diabetiker sein. Mehrere Studien laufen derzeit zu dieser Fragestellung. Die ASPREE-Studie soll belegen, dass diese Patientengruppe einen besonderen Nutzen einer Prophylaxe haben könnte. An der ACCEPT D-Studie der Fondazione Mario Negri Sud in Mozzagrogna nehmen 5.170 Diabetiker teil. Die ASCEND-Studie der British Heart Foundation umfasst 15.480 Diabetiker. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Wirkung von ASS auf die Bildung von NO. Dieses Hormon ist in die endothelialen Entzündungsvorgänge beim Diabetes eingebunden. Tatsächlich konnte in einer Studie von Hennekens et al. gezeigt werden, dass ASS als einziges NSAR die Aktivität der endothelialen NO-Synthase steigert.
Eine weitere Studie untersuchte die Wirkung von NOSH-Aspirin. NOSHs sind dem ASS ähnliche Prodrugs, die Stickstoffmonoxid (NO) und Schwefelwasserstoff (H2S) freisetzen. Der Gasotransmitter ist in die Protektion von Schleimhäuten eingebunden. Die Substanz NBS-1120 (4-(3-Thioxo-3H-1,2-dithiol-5-yl)phenyl-2-((4-(nitrooxy)-butanoyl)oxy)benzoat) wirkt antiphlogistisch und hemmt das Zellwachstum, was sie für die Tumortherapie interessant macht.
Das vom US-Gesundheitsministerium eingesetztes Gremium „U. S. Preventive Services Task Force“ (USPSTF) wagt jetzt einen großen Schritt nach vorn. In seinem Leitlinienentwurf empfiehlt das Gremium die Einnahme von ASS zur Primärprävention von Herzinfarkt und Darmkrebs und sieht die Datenlage als evidenzbasiert an. Alle Erwachsenen im Alter zwischen 50 und 70 Jahren sollen täglich ASS einnehmen, sofern ihr kardiovaskuläres Risiko auch nur leicht erhöht ist und kein erhöhtes Blutungsrisiko vorliegt. Bereits wenn das Herzinfarktrisiko lediglich mindestens 10 Prozent beträgt, soll geschluckt werden. Die Forschergruppe um Evelyn Whitlock begründet die Empfehlung damit, dass eine regelmäßige Einnahme von ASS das Risiko auf einen tödlichen Myokardinfarkt um 22 Prozent (relatives Risiko 0,78; 95-Prozent-Konfidenzintervall 0,71–0,87) senkt. Die Gesamtmortalität wird um 6 Prozent (relatives Risiko 0,94; 0,89–0,99) gemindert. Es wird angenommen, dass auf 1.000 Anwenderjahre durchschnittlich zwei zusätzliche Blutungsereignisse kommen. Dies gilt allerdings nur für jüngere Menschen, Frauen und Personen, die keine anderen Blutungsrisikofaktoren haben. Ob die positiven Ergebnisse in einem geriatrischen Assessment den Benefit vernichten, ist fraglich. Die Deutsche Herzstiftung schätzt, dass in Deutschland viele Tausend Gesunde regelmäßig ASS einnehmen, um einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu verhindern. „Hat ein Mensch kein erhöhtes Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall, ist von einer regelmäßigen ASS-Einnahme abzuraten, soweit keine anderen Erkrankungen die Gabe von ASS erforderlich machen“, warnt Prof. Dr. med. Helmut Gohlke vom Vorstand der Deutschen Herzstiftung.
ASS wirkt nicht nur im Herzen, es soll auch Darmkrebs vorbeugen können. Whitlock ermittelt ein relatives Risiko von 0,67, das mit einem relativ weiten 95-Prozent-Konfidenzintervall von 0,52 bis 0,86 gleichwohl signifikant war. Anders als bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen scheint die präventive Wirkung jedoch erst nach längerer Einnahmezeit aufzutreten. Menschen, die ASS über 1 bis 19 Jahre einnahmen, erkrankten zu 40 Prozent seltener an Darmkrebs (relatives Risiko 0,60; 0,47–0,76). In der entsprechenden S3-Leitlinie „Kolorektales Karzinom“ vom August 2014 heißt es: „Acetylsalicylsäure soll nicht zur Primärprävention des kolorektalen Karzinoms in der asymptomatischen Bevölkerung eingenommen werden.“ Begründet wird das mit dem erhöhten Blutungsrisiko. Die Autoren der deutschen Leitlinie folgen damit einer Empfehlung der US-amerikanischen Preventive Services Task Force aus dem Jahr 2007. Es bleibt abzuwarten, ob die neuen Daten die Experten hierzulande und in Übersee überzeugen werden. Der Präventivmediziner Jack Cuzick von der Queen Mary University of London ist der Ansicht: „Täglich eine Aspirintablette einzunehmen ist – nach dem Nichtrauchen und einem gesunden Gewicht - die wichtigste Vorsorge, die wir treffen können, um das Krebsrisiko zu reduzieren.“ Die Erkrankungsrate an Krebs ließe sich mit der ASS-Einnahme um sieben Prozent bei Frauen und neun Prozent bei Männern senken. Würden durchschnittliche Europäer im Alter zwischen 50 und 65 Jahren zehn Jahre lang täglich den Wirkstoff in niedriger Dosis zwischen 75 und 325 Milligramm nehmen, so die Berechnung, ließen sich Krebs, Infarkt und Schlaganfall um sieben Prozent bei Frauen und neun Prozent bei Männern senken. Im Zeitraum von 20 Jahren wären vier Prozent weniger Todesfälle in dieser Altersgruppe die Folge. Auch eine ältere Studie von der Universität Oxford aus dem Jahr 2010 untersuchte die Krebsrate bei Patienten, die zur Kardioprotektion ASS einnahmen. Teilnehmer der ASS-Gruppe starben zu 35 Prozent seltener an Darmkrebs. Da die Gesamtsterblichkeit in die Studie nicht einbezogen wurde, reichten die Daten nicht für eine aussagekräftige Bewertung.
Keine der Studien berücksichtigt erstaunlicherweise die Tatsache, dass ASS einem Genderaspekt unterliegt. Es wirkt bei Frauen quantitativ prophylaktisch anders als bei Männern. Dies wurde bereits vor zehn Jahren in einer prospektiven, Placebo-kontrollierten Studie an 39.876 Frauen ohne bisherige kardiovaskuläre Ereignisse gezeigt. Niedrig dosiertes ASS in der Primärprävention mindert bei Frauen das Risiko für einen Herzinfarkt nicht, das Schlaganfallrisiko jedoch signifikant um 17 Prozent. Lediglich Frauen über 65 Jahre profitieren von einer Primärprävention mit ASS 100 mg jeden zweiten Tag im Hinblick auch auf Herzinfarkte und Gesamtsterblichkeit. Dies zeigte auch eine Metaanalyse [Paywall] aus dem Jahr 2006. Bei Männern wird signifikant das Herzinfarktrisiko gesenkt, bei Frauen das Schlaganfallrisiko. Für die Sekundärprophylaxe gelten die Aspekte der Gendermedizin vermutlich nicht. Zu viele Fragen sind noch offen, um bedenkenlos jedem Gesunden ab 50 Jahren mit einem leichten statistischen Risiko für Herzerkrankungen zu empfehlen, die nächsten Jahrzehnte ASS einzunehmen. Bei einer genetischen Prädisposition für Darmkrebs oder einem manifesten Diabetes sieht das schon anders aus.