Es ist weiterhin unklar, welche Ereignisse zur MS-Genese führen. Umweltfaktoren und genetische Prädisposition scheinen jedoch eine Rolle zu spielen. Nun richtet sich das Auge der Forscher auf den Darm: Dessen Bakteriengemeinschaft könnte als MS-Trigger fungieren.
Einer im September dieses Jahres in PLOS ONE veröffentlichten Studie zufolge gibt es charakteristische Unterschiede in der bakteriellen Besiedlung des Darms (Mikrobiota) von Personen mit und ohne MS. Für ihre Analyse untersuchten die Forscher um Prof. Masahira Hattori von der Universität Tokio und Dr. Takashi Yamamura vom Nationalen Institut für Neurowissenschaften in Tokio (Japan) Stuhlproben japanischer MS-Patienten und gesunder Kontrollprobanden auf deren ribosomale 16S-rRNA. Die Proben unterschieden sich nur gering bezüglich der Artenvielfalt, die Forscher identifizierten jedoch 21 Bakterienarten, deren Häufigkeit sich bei MS-Patienten und gesunden Probanden unterschied: 2 (Streptococcus thermophilus und Eggerthella lenta) kamen häufiger und 19 seltener bei den MS-Patienten vor. Die unterrepräsentierten Spezies gehörten u. a. zu den Gattungen Faecalibacterium, Anaerostipes, Bacteroides, Clostridium und Prevotella.
Dass die veränderte Zusammensetzung der Darm-Mikrobiota nicht nur Folge, sondern sogar die Ursache von Multipler Sklerose sein könnte, davon ist auch Prof. Hartmut Wekerle vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in München überzeugt: „Den Mikrobiota kommt eine entscheidende Bedeutung als Trigger der Multiplen Sklerose zu.“ Hinweise darauf stammen bisher überwiegend aus Tierversuchen. Das am besten untersuchte MS-Tiermodell ist die experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis (EAE). EAE-Mäuse entwickeln eine T-Zell-vermittelte, durch Demyelinisierung gekennzeichnete Autoimmunerkrankung. Ein Weg, um die Mäuse erkranken zu lassen, ist, ihnen Myelin-Antigene zu spritzen (induzierte EAE). Tötet man bei Mäusen durch Antibiotika-Behandlung einen Großteil der Darm-Mikrobiota ab, sind die Tiere resistenter gegen eine induzierte EAE-Erkrankung. Eine andere Möglichkeit, EAE hervorzurufen, ist eine genetische Manipulation, bei der die Tiere Transgene tragen, die dazu führen, dass ihr Immunsystem einen abnorm hohen Anteil an Autoimmun-T-Zellen aufweist. Bei diesen Tieren ist die Wahrscheinlichkeit, spontan an EAE zu erkranken, von den hygienischen Bedingungen der Haltung abhängig [Paywall]: Je sauberer die Mäuse gehalten werden, umso geringer ist die Frequenz, mit der EAE in der Population auftritt. Komplett keimfreie, transgene Mäuse [Paywall] sind vor EAE geschützt, erkranken aber, sobald sie einer normalen Darmflora ausgesetzt sind. „Offensichtlich wird in diesem Modell die Autoimmunreaktion gegen Gewebe des zentralen Nervensystems von den Darm-Mikrobiota ferngesteuert“, erklärt Prof. Wekerle.
Darm-Mikrobiota und Immunsystem beeinflussen sich gegenseitig auf vielfältige Weise, auf lokaler wie auch auf systemischer Ebene. Ständig gelangen mikrobielle Produkte durch Diffusion in die Blutbahn und können so die Immunantwort in der Peripherie modulieren. Dies erklärt, warum eine Breitbandantibiotika-Therapie beispielsweise zu einer Dämpfung der B- und T-Zell-Aktivität führt. Als Lehrer und Sparringspartner für das Immunsystem ist die Darm-Mikrobiota also gesundheitsförderlich, doch der Nutzen der Darmbesiedler hat seinen Preis: Beispielsweise besteht die Gefahr einer Kreuzreaktivität zwischen kommensalen und pathogenen Bakterien sowie körpereigenen Strukturen. Da die Mikroorganismen des Darms und das Immunsystem so eng miteinander verwoben sind, stellt sich die Frage, welche Rolle die Nahrung bei diesem Prozess spielt. Für die „westliche“ Ernährungsweise in Industrieländern ist ein Mangel an Ballaststoffen in Form komplexer pflanzlicher Polysaccharide typisch. Dies hat fatale Folgen für das Immunsystem, denn normalerweise fermentieren Darmbakterien aus Ballaststoffen große Mengen an kurzkettigen Fettsäuren wie Butyrat, die wiederum anti-inflammatorische und immunsuppressive Eigenschaften [Paywall] besitzen. Bei Menschen mit einer Veranlagung zur Autoimmunität könnte daher unter solchen Bedingungen schon der basale inflammatorische Effekt bestimmter kommensaler Bakterien ausreichen, um das Immunsystem aus dem Ruder laufen zu lassen. Außerdem hat die Nahrung einen großen Einfluss auf die Zusammensetzung der Darm-Mikrobiota. Eine dadurch hervorgerufene Dysbiose könnte beispielsweise die Mengen an immunregulatorischen bakteriellen Molekülen im Darm vermindern. Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass das vom kommensalen Darmbakterium Bacteroides fragilis gebildete Polysaccharid A (PSA) die Aktivierung und Proliferation von Immunzellen induzieren kann, und dass eine PSA-Behandlung zu prophylaktischen und therapeutischen Effekten im Maus-MS-Modell führt. Außerdem konnte belegt werden [Paywall], dass PSA intestinale afferente Neurone des enterischen Nervensystems – unseres „zweiten Gehirns“ – aktiviert. Dies zeigt, dass es eine enge Verknüpfung zwischen Mikrobiota, Darm und Nervensystem gibt.
Für viele Industrieländer ist bekannt, dass die Inzidenzrate von Multipler Sklerose seit vielen Jahrzehnten ansteigt: In Norwegen hat sie sich seit 1953 mehr als vervierfacht, dieselbe Zunahme war in Japan [Paywall] innerhalb von nur 30 Jahren zu beobachten. Über die Ursache dafür konnte bisher nur spekuliert werden, neben einer verbesserten Diagnostik und einem erhöhten Bekanntheitsgrad der Erkrankung wurden aber auch Umweltfaktoren wie Sonnenexposition und ein damit verbundener Vitamin-D-Mangel diskutiert. Dass eine veränderte Darm-Mikrobiota, möglicherweise bedingt durch einen urbaneren Lebensstil mit einer veränderten Ernährung, eine Schlüsselrolle spielen könnte, ist dagegen eine noch junge Erkenntnis. Doch welche neuen Therapieoptionen ergeben sich hieraus? Einerseits ist eine direkte Intervention über die Nahrung denkbar. Die italienischen Forscher Paolo Riccio und Rocco Rossano empfehlen deshalb Patienten mit Multipler Sklerose eine ballaststoffreiche Diät, die arm an proinflammatorischen Nahrungsbestandteilen wie gesättigten tierischen Fettsäuren, Transfetten, rotem Fleisch, Zucker und Salz ist. Ebenfalls denkbar ist, über Prä- und Probiotika oder Antibiotika in die Zusammensetzung der Darmflora einzugreifen, um damit die Funktion der Mikrobiota gezielt zu beeinflussen. Eine radikalere Alternative sind sogenannte Stuhltransplantationen. Ihren therapeutischen Nutzen hat diese Methode bereits bei Darmerkrankungen wie Clostridium difficile-Infektionen bewiesen, doch auch bei Autoimmunerkrankungen wie MS könnte sie sich als nützlich erweisen. Zwar gibt es bisher keine systematischen Studien zu diesem Thema, doch in immerhin drei Fällen kam es bei MS-Patienten, die sich wegen Obstipation einer Stuhltransplantation unterzogen hatten, zu einer dauerhaften Verbesserung der MS-Symptomatik. Es könnte sich also lohnen, diesen Therapieansatz weiter zu erforschen. Bis aus der Forschung neue Therapien mit erwiesener Wirksamkeit und Sicherheit hervorgehen, wird allerdings wohl noch einige Zeit vergehen.