Bei nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln stehen Online-Apotheken hoch im Kurs. Kunden bestellen überproportional häufig kritische Präparate: eine Möglichkeit, die aktive Beratung öffentlicher Apotheken zu umgehen.
Beim Deutschen Apothekertag 2015 befassten sich Delegierte einmal mehr mit Versandapotheken. Kollegen des Apothekerverbands Nordrhein fordern vom Gesetzgeber, Vertriebswege jenseits der Offizin für Rx-Präparate zu unterbinden. Sie argumentierten vor allem mit Sicherheitsbedenken und mit Schwächen bei der Beratung. OTCs ließen sie außen vor - aufgrund „europarechtlicher Bedenken“. Pharmazeutische Zweifel bleiben trotzdem.
Ein Beleg: Aktuellen Zahlen von IMS Health zeigen, dass Versender dank nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel weiter wachsen. Gemessen am Vergleichsmonat 2014 erhöhte sich der Gesamtumsatz um sechs Prozent auf 64 Millionen Euro. Knapp zehn Prozent gingen auf das Konto von OTCs, während Rx-Präparate nach Wert um acht Prozent einbrachen. Ähnlich sieht es bei Halbjahreszahlen aus: Der Versandhandel wuchs um knapp neun Prozent (416 Millionen Euro), gemessen am Umsatz. Dahinter stecken wenig überraschend ebenfalls OTCs (plus zwölf Prozent), während Rx-Präparate einbrachen (minus vier Prozent). Besonders absatzstark waren im Juni topische Rhinologika (plus 14 Prozent), gefolgt von Präparaten zur Stärkung des Immunsystems (plus 36 Prozent), künstlichen Tränen (plus 15 Prozent), Auswurfmitteln ohne antiinfektive Komponente (plus 13 Prozent), Hypnotika und Sedativa (plus 11 Prozent) sowie tropischen Antirheumatika beziehungsweise Analgetika (plus zehn Prozent). Aufgrund dieser Entwicklung schlägt Professor Dr. Harald G. Schweim, früherer Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), jetzt Alarm.
Sind Versandapotheken so begehrt, weil Kunden ohne lästige Fragen größere Mengen an OTCs bekommen? Durchschnittlich enthalten Packungen bei Versendern 63,4 Einzeldosen, verglichen mit 41,5 Dosen in Präsenzapotheken. Der Versandhandel agiere vor allem umsatzorientiert, so Schweim, während die Apotheke vor Ort eher mengenbegrenzend wirke. „Verschreibungsfrei heißt aber nicht, dass diese Arzneien unbedenklich sind“, kritisiert der Pharmakologe gegenüber der „Welt“. Als besonders kritisch stuft er Kombinationspräparate gegen Erkältungssymptome ein. Laut IMS Health gaben Präsenz- und Versandapotheken 56,8 Millionen Packungen paracetamolhaltiger OTCs ab (2014), davon 12,8 Prozent über den Versand: eine Richtschnur für unterschiedliche Medikamente. Darunter befanden sich 12,05 Millionen Packungen Thomapyrin®. Rund 17 Prozent gingen über den Versand – 4,2 Prozentpunkte mehr als der durchschnittliche Marktanteil. Noch deutlicher zeigen sich entsprechende Tendenzen bei Wick Medinait®. Von diesem Erkältungs-Kombipräparat wurden 2014 sage und schreibe 33,7 Prozent aller 160.000 abgegebenen Packungen über den Versand verkauft – das sind 20,9 Prozentpunkte mehr als der OTC-Durchschnitt paracetamolhaltiger Pharmaka. „Jedes Prozent, das der Versand über dem Durchschnitt aller Produkte im Versandhandel liegt, legt bei problematischen Arzneimitteln eine Vernachlässigung der Beratung nahe“, kommentiert Schweim.
Interessenvertreter reagierten empört auf die Kritik. „Unsere Mitglieder geben die Verantwortung als Apotheker ja nicht ab, nur weil sie ihre Medikamente über den Versandhandel zu den Patienten bringen“, erklärt Udo Sonnenberg, Geschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Versandapotheken (BVDVA). „Solche Behauptungen, wonach wir den Umsatz vor das Patientenwohl stellen, sind daher völlig aus der Luft gegriffen.“ Dazu zwei Aspekte: Tatsächlich achten Versender mit elektronischen Algorithmen auf Höchstmengen, die verschreibungsfrei abgegeben werden dürfen, falls es rechtliche Einschränkungen gibt. Anders sieht es bei Laxantien oder abschwellenden Nasensprays aus – zwei Präparategruppen mit Gewöhnungseffekt. Einige Versender legen ihrer Lieferung nur Hinweise bei – inklusive Telefonnummer zur Beratung. Obergrenzen gibt es nicht. Präsenzapotheken würden im Zweifelsfall die Abgabe verweigern.
Andere Länder haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Jetzt bremsten Schweizer Richter den Versender Zur Rose aus. Inhaltlich ging es um nicht rezeptpflichtige Pharmaka der Kategorien C und D, darunter sind etliche OTCs mit Fachberatung. Juristen bewerteten den Versand entsprechender Medikamente als Verstoß gegen das Heilmittelgesetz. Im Unterschied zu Präsenzapotheken muss Versandapotheken eine Verschreibung vorliegen. Zur Rose ließ Kunden Fragebögen ausfüllen, und Ärzte Rezepte verordneten entsprechende Präparate. „Die Verschreibung durch den Arzt setzt voraus, dass er den Patienten und seinen Gesundheitszustand kennt“, urteilten Richter. „Ein Gesundheitsfragebogen und die bloße Möglichkeit zur Kontaktaufnahme reichen nicht aus.“ In Deutschland hatte Harald G. Schweim schon öfter gefordert, Großpackungen kritischer OTCs der Verschreibungspflicht zu unterstellen. Beim zuständigen Bundesministerium für Gesundheit gibt es momentan keine Bestrebungen, aktiv zu werden.