Zufällig entdeckte ein Astronaut der Internationalen Raumstation ISS bei sich selbst ein Blutgerinnsel. Wie ging es dann weiter?
Medizinische Experimente gehören zum Programm vieler Missionen der Internationalen Raumstation ISS. Für eine Studie über Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf Blutgefäße untersuchte ein Astronaut seinen Körper mit Ultraschall. Ähnliche Tests waren bei ihm auf der Erde ohne Befund geblieben. Doch zwei Monate nach Beginn des Aufenthalts im All fand er Hinweise auf einen Thrombus in der Vena jugularis externa, einer Vene im Halsbereich. Was kann man 400.000 Meter über der Erde in solchen Situationen tun? Darüber berichtet Serena M. Auñón-Chancellor vom Louisiana State University Health Science Center.
ISS, aufgenommen aus dem Space Shuttle Discovery, Quelle: NASA/Wikimedia Commons
Seit Beginn der zivilen Weltraumfahrt hatten Missionsleiter immer wieder befürchtet, dass es zu medizinischen Notfällen kommen könnte. Im schlimmsten Fall kann bei der ISS ein angedocktes Sojus-Raumschiff startklar gemacht werden. Vom Weltraum bis ins Krankenhaus vergehen dann theoretisch nur sechs Stunden. Der Transport ist eine aufwendige Prozedur. Die zwei wesentlichen Hürden sind die extremen Gravitationskräfte beim Rückflug als Belastung für Patienten und die Kosten.
Bei jeder Mission gibt es sogenannte Crew Medical Officers wie Samantha Cristoforetti und Tim Peake. Beide haben eine Pilotenausbildung, sind aber keine Ärzte. Zuvor haben die Astronauten in speziellen Trainings gelernt, Wunden zu nähen, Blasenkatheter zu legen oder nach ärztlichem Rat verschreibungspflichtige Medikamente aus der Bordapotheke zu verabreichen. Dazu zählen beispielsweise Analgetika bei Schmerzen, Antiemetika bei der Reisekrankheit, Hypnotika bei Schlafstörungen oder Antikoagulantien bei Blutgerinnseln – und viele mehr. Auch ein Defibrillator und ein Ultraschallgerät stehen zur Verfügung.
Zurück zu unserem Astronauten mit dem Thrombus. NASA-Flugärzte aus Houston, Texas, verständigten Prof. Dr. Stephan Moll von der Universität von North Carolina (UNC) Chapel Hill als Venenspezialisten. Für die medizinische Beratung existiert eine verschlüsselte, nahezu unterbrechungsfreie Funkverbindung zur ISS.
Das Anamnesegespräch brachte wenig Neues zu Tage: Moll bestätigte anhand übertragener Sonographie-Daten, dass es sich um eine Thrombose der Vena jugularis externa handelt. Weitere Venen waren nicht betroffen. Weder in der Vorgeschichte noch in der Familie seien bislang Thrombosen aufgetreten, erklärte der betroffene Astronaut. Beschwerden habe er nicht.
Moll diskutierte mit Kollegen über die weitere Strategie. An Bord befanden sich damals 20 Ampullen mit je 300 mg Enoxaparin, einem niedermolekularen Heparin zur Hemmung der Blutgerinnung. Es wird zur Behandlung und Prophylaxe von Thrombosen verwendet. Wie von Antikoagulanzien bekannt, muss mit einem erhöhten Blutungsrisiko gerechnet werden. Protamin als Antidot gab es auf der ISS nicht.
Nur schien Abwarten auch keine Option zu sein. Moll befürchtete unter anderem eine Thrombusembolie oder eine retrograde Ausdehnung des Thrombus in den Sinus transversus – eine verzwickte Lage. Die Spezialisten entschlossen sich trotz einiger Bedenken zur antikoagulativen Therapie. Der Astronaut begann, sich einmal täglich 1,5 mg Enoxaparin pro Kilogramm Körpergewicht zu spritzen. Aufgrund der geringen Schwerkraft ist das nicht einfach: Flüssigkeiten breiten sich in jede Richtung aus.
Raumschiff als Pillentaxi
Nach 33 Tagen wurde die Dosis auf 1,0 mg pro Kilogramm einmal täglich reduziert, und zwar nicht aus medizinischen Gründen. Vielmehr galt es, die Zeit bis zu einem geplanten Versorgungsflug in Richtung ISS zu überbrücken.
QUnbemanntes Sojus-Frachtschiff transportierte Medikamente zur ISS, Quelle: NASA/Wikimedia Commons
Genau 42 Tage nach der Diagnose bekam Molls Patient dann orales Apixaban, und zwar 5 mg zwei Mal täglich. Apixaban zählt zu den neuen oder direkten Antikoagulanzien (NOAK/DOAK). Es hemmt den Faktor Xa. Die Dosis wurde drei Monate nach der Diagnose auf 2,5 mg zwei Mal täglich reduziert. Sicherheitshalber schickten Flugärzte gegen Blutungen auch Protamin und Prothrombinkomplex-Konzentrat mit. Beide Antidota kamen nicht zum Einsatz.
Unter der Pharmakotherapie schrumpfte der Thrombus laut Sonographie. Aber selbst 90 Tagen nach Einleitung der Antikoagulation konnte im betroffenen Bereich kein spontaner Blutfluss nachgewiesen werden. Moll riet, Apixaban vier Tage vor dem Rückflug zur Erde abzusetzen, damit es aufgrund starker physikalischer Belastungen nicht doch noch zu Blutungen kommt. Direkt nach der Landung konnte Blut die Engstelle passieren, wie eine Untersuchung vor Ort ergeben hat. Zehn Tage später war das Blutgerinnsel komplett verschwunden.
Der Fallbericht überrascht: Wie Auñón-Chancellor schreibt, kenne man eine Thrombose der Vena jugularis interna auf der Erde eher bei Krebserkrankungen, bei Patienten mit zentralvenösem Katheter oder beim ovariellen Hyperstimulationssyndrom. Auf den Patienten traf das alles nicht zu. Die Forscher hatten ein neues Risiko in der menschlichen Raumfahrt entdeckt – wenn auch nur per Zufall.
Bereits vor einem Jahrzehnt bemerkten Wissenschaftler, dass Astronauten nach mehreren Monaten auf der ISS geschwollene Sehnerven, leicht abgeflachte Augäpfel und Sehstörungen entwickelten. Eine Hypothese lautete, dass sich bei der geringen Schwerkraft Flüssigkeit im Kopfbereich ansammelt. Diesen Aspekt wollte Karina Marshall-Goebel von der NASA mit den anfangs erwähnten Ultraschall-Experimenten untersuchen.
Zu den Astronauten der Studie gehörten neun Männer und zwei Frauen. Vor dem Start fand Marshall-Goebel bei Messungen an der Halsvene nichts Auffälliges. An Bord der ISS zeigten Scans jedoch, dass der Rückfluss des Blutes bei fünf der elf Astronauten ins Stocken geriet: ein Risikofaktor für Thrombosen. „Keines der Besatzungsmitglieder hatte später auf der Erde auffällige klinische Ergebnisse“, sagt Marshall-Goebel.
Bisherige Versuche, die Blutzirkulation mit Lower Body Negative Pressure Devices waren nur teilweise erfolgreich. Diese „Unterdruckhosen“ sollen für eine bessere Verteilung des Blutes im Körper sorgen. Von siebzehn durchgeführten Therapien führten zehn zu einem besseren Blutfluss, zwei zu einem schlechteren, und fünf veränderten nichts. Ein NASA-Sprecher sagt, dass die Agentur derzeit Pläne für ein sytematisches Ultraschallprogramm ausarbeite, um alle Astronauten im Orbit zu überwachen.
Das Thema könnte bald noch relevanter werden. Auñón-Chancellor weist auf mögliche Risiken einer Marsmission hin. Optimisten rechnen frühestens Ende der 2020er- bis Anfang der 2030er Jahren mit solchen Flügen. Geschätzte Dauer einer Strecke: sieben bis neun Monate.
Also handelt es sich doch nur um ein Luxusproblem? Wohl kaum, denn solche Szenarien lassen sich auf entlegene Gegenden der Erde ohne Klinik an jeder Straßenecke übertragen. Im Jahr 2018 erlitt ein 44-jähriger Australier 150 Kilometer vom nächsten Krankenhaus entfernt einen ST-Hebungsinfarkt. Er hatte medizinische Grundkenntnisse – und Zugriff auf einen recht gut ausgestatteten, personell aber nicht besetzten Versorgungsstützpunkt. Der Patient führte bei sich selbst unter EKG-Kontrolle eine Lysetherapie durch. Ihm half nicht Houston, aber der Western Australia Emergency Telehealth Service (WAETS).
Genau hier liegt der eigentliche Mehrwert der NASA-Studie: Hilfskräfte behandeln Patienten anhand telemedizinischer Weisungen, bis ein Transport möglich ist. Das ist unorthodox, kann aber Leben retten.
Bildquelle: NASA/Expedition 40, Wikimedia Commons