Chirurgen aus Deutschland kritisieren, es gebe bei uns zu wenige bariatrische Eingriffe. Sie verweisen auf Erfolge im Kampf gegen Typ-2-Diabetes oder Hypertonie. Geht es wirklich um Patienten – oder um eine neue Möglichkeit, mehr Umsatz zu generieren?
Laut Barmer-Krankenhausreport hat sich die Zahl bariatrischer OPs zwischen 2006 und 2014 bei Versicherten mehr als verfünffacht. Zuletzt waren es 1.070 Fälle bzw. auf alle Versicherten hochgerechnet 9.225 Eingriffe. Barmer-Chef Christoph Straub sieht auf die Kasse „massive Mehrkosten“ zukommen. Bariatrische Eingriffe seien für Kliniken lukrativ, es bestehe daher die Tendenz zu immer mehr Eingriffen. Würden alle Adipositas-Patienten mit einem Body-Mass-Index ab 40 operiert, kämen auf alle GKVen kurzfristig 14,4 Milliarden Euro zu. Kosten durch Komplikationen oder Anschlussbehandlungen kommen noch hinzu. Der Trend ist komplexer als auf den ersten Blick zu vermuten wäre:
Im Zeitalter von Fallpauschalen sind OPs für Kliniken weitaus lukrativer als die „sprechende Medizin“ in Form von Dialogen zwischen Arzt und Patient, um abzunehmen. Wie DocCheck berichtet hat, macht sich das bei Diabetes schon heute bemerkbar. An dieser Komorbidität leiden zahlreiche Menschen mit starkem Übergewicht. Entzündet sich beim diabetischem Fuß eine Zehe, gibt es mehrere Behandlungsstrategien. Für Beratung zur besseren Einstellung, Antibiotikatherapie und zwei- bis dreiwöchige Bettruhe lassen sich 3.000 Euro abrechnen. Entscheiden sich Chirurgen für eine Amputation inklusive einwöchigem stationärem Aufenthalt, sind es 6.000 Euro. Bei bariatrischen OPs lassen sich 9.000 Euro oder mehr abrechnen. Kosten der „sprechenden Medizin“ fallen hier kaum ins Gewicht. Weitere Zahlen bestätigen die ökonomische Hypothese. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung fanden Barmer-Versorgungsforscher 350 Krankenhäuser in Deutschland, die bariatrische Operationen anbieten. Von ihnen hatten nur 44 Kliniken ein Zertifikat der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV). „In einer zertifizierten Klinik sind die Komplikationen bei einem bariatrischen Eingriff geringer als in einem herkömmlichen Krankenhaus, auch das Sterberisiko ist um 15 Prozent reduziert“, berichtet Professor Boris Augurzky, vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung in Essen. Neben der Patientensicherheit geht es auch um wirtschaftliche Aspekte. Eingriffe inklusive möglicher Anschlussbehandlungen sind bei zertifizierten Krankenhäusern nach fünf Jahren im Schnitt um zirka 3.800 Euro günstiger als in nicht zertifizierten Einrichtungen. Nach Methoden aufgeschlüsselt, beträgt der Unterschied 6.000 Euro (Magenbypass) und rund 1.700 Euro (Schlauchmagen).
Chirurgen teilen diese kritische Sichtweise nicht. Sie verweisen auf statistische Zahlen. Laut Adipositas-Gesellschaft hat sich die Prävalenz innerhalb von 20 Jahren um relative 39 Prozent bei Männern und 44 Prozent bei Frauen erhöht. Absolut leiden zurzeit in Deutschland 67 Prozent aller Männer und 53 Prozent aller Frauen an Übergewicht, berichtet das Robert Koch-Institut. Ab einem Body-Mass-Index von 30 sprechen Ärzte von Adipositas. Davon ist hierzulande jeder vierte Einwohner (23 beziehungsweise 24 Prozent) betroffen. Bekanntermaßen ist das Risiko an Typ-2-Diabetes oder Hypertonie zu erkranken, bei adipösen Patienten besonders stark erhöht. OP-Techniken (A: Magenband, B: Schlauchmagen, C: Roux-en-Y-Bypass) © Signe Nielsen et al, DOI: 10.4172/2161-1173.1000136, Open Access / Creative Commons
Dem Vorwurf, aus Kostengründen zu operieren, halten Chirurgen nicht nur demographische Fakten, sondern Untersuchungen aus der Schweiz entgegen. Auch die Schweizer haben Fallpauschalen, nämlich die Swiss Diagnosis Related Groups, was zu ähnlichen Diskussionen über wirtschaftliche Beweggründe führt. Deshalb haben sie wissenschaftliche Veröffentlichungen ausgewertet. „Alle Studien an Patienten mit BMI-Werten >35 kg/m2 wiesen darauf hin, dass die bariatrische Chirurgie bei Zugrundelegung der von den Autoren festgelegten Kriterien kostensparend bzw. kostengünstig ist“, heißt es im Artikel. Kosten-Effektivitäts-Analysen lagen unter 50.000 CHF pro gewonnenem qualitätskorrigiertem Lebensjahr (QALY), was Vorgaben aus anderen Bereichen wie der Onkologie entspricht.
Von der Schweiz geht es zurück nach Deutschland. „Aktuell führen wir in den rund 50 zertifizierten Adipositas-Zentren gerade einmal 10.000 solcher Eingriffe pro Jahr durch“, sagt Professor Dr. Dieter Birk. Er ist ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie in Bietigheim-Bissingen. „In Österreich, der Schweiz, Frankreich oder Belgien sind es – umgelegt auf die Bevölkerungszahlen – 10 bis 30 Mal mehr.“ Professor Dr. Christine Stroh vom Wald-Klinikum Gera kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Für die OP-Häufigkeit gibt sie an:
Trotz hoher Adipositas-Prävalenz bleibt die Zahl, gemessen an unseren Nachbarländern, zurück. Das liegt an den Voraussetzungen für Eingriffe laut S3-Leitlinie „Chirurgie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen“:
Basierend auf der Leitlinie fordern Krankenkassen, dass – von Einzelfällen abgesehen – Patienten alle Möglichkeiten der konservativen Therapie ausschöpfen sollen, bevor sie eine OP bewilligt bekommen. Ihre Basis ist der Begutachtungsleitfaden „Adipositas-Chirurgie“ des Medizinischen Diensts des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS): „Zur Behandlung der Adipositas wird eine multimodale konservative Therapie, bestehend aus Ernährungstherapie, Bewegungstherapie und Verhaltenstherapie ggf. auch in strukturierten Programmen empfohlen, die möglichst unter ärztlicher Überwachung über mindestens sechs Monate erfolgen sollte.“ Zertifizierte Programme sind allerdings rar und nicht überall verfügbar. Gesetzliche Krankenkassen lehnen so manchen Antrag auf bariatrische Eingriffe ab – teilweise unter Angabe von fadenscheinigen Gründen. Birk: „Aus medizinischer Sicht ist das nicht nachvollziehbar und absolut inakzeptabel: Ein BMI von 40 in Kombination mit einer kardiovaskulären Erkrankung und einem Diabetes reduziert die Lebenserwartung etwa so wie ein Dickdarmkarzinom – das selbstverständlich in jedem Fall und ohne vorherige Prüfung durch die Kassen operiert wird.“
Nicht nur Ärzte verdienen gut an Menschen mit Adipositas, sondern auch pharmazeutische Hersteller. Typ-2-Diabetes ist eine häufige Komorbidität und damit ein gewaltiger Markt. „Wir schätzen, dass allein in den Vereinigten Staaten jährlich 38,8 Milliarden US-Dollar für Antidiabetika ausgegeben werden“, sagt Michel Gagner, Forscher an der Herbert Wertheim School of Medicine an der Florida International University. Mit diesem Geld könne man theoretisch 1,3 Millionen adipöse Patienten pro Jahr mit Skalpell behandeln. Tatsächlich liegt die Zahl in den USA bei nur ca. 200.000 bariatrischen Operationen. Es gibt vielfältige Möglichkeiten zur Einflussnahme, etwa über Leitlinienautoren, Fachgesellschaften oder Versicherungen. Bei mehr OPs drohen Umsatzeinbußen. Kürzlich veröffentlichte Ergebnisse einer Studie mit 30.000 Patienten aus Frankreich bestätigen Gagners Forderung, Patienten mit schwerem Übergewicht und Typ-2-Diabetes zu operieren statt sie medikamentös zu behandeln. Jérémie Thereaux vom Caisse Nationale d’Assurance Maladie des Travailleurs Salariés, Paris, wollte herausfinden, inwieweit adipöse Patienten mit Typ-2-Diabetes postoperativ noch Antidiabetika benötigen. Ihm standen Daten einer populationsbasierten Kohorte zur Verfügung. Insgesamt wurden 15.650 Patienten operiert. Sie erhielten einen Roux-en-Y-Magenbypass, (27,7 Prozent), einen Schlauchmagen (Sleeve-Gastrektomie; 22,0 Prozent) oder ein Magenband (48,5 Prozent). Von den Patienten, die vor der OP antidiabetisch behandelt wurden, benötigten 49,9 Prozent sechs Jahre nach der OP keine Medikamente mehr. Bei den Patienten, die nicht operiert und ausschließlich mit Medikamenten behandelt wurden, kamen nur 9,0 Prozent ohne Antidiabetika aus. Gemessen an der konservativen Therapie hatten die Patienten eine 16-fach (Magenbypass), 7-fach (Schlauchmagen) oder 4-fach (Magenband) höhere Chance, nicht mehr auf Pharmaka angewiesen zu sein. Diese Ergebnisse bestätigte auch Philip R. Schauer vom Bariatric and Metabolic Institute der Cleveland Clinic. Zusammen mit Kollegen hat er 134 Patienten fünf Jahre begleitet und HbA1c-Werte als Maß für die mittelfristige Blutzucker-Einstellung bestimmt. Denn ein erhöhtes HbA1c weist auf eine schlechte Einstellung des Blutzuckers hin. Anfangs betrug der HbA1c-Wert bei den Probanden im Durchschnitt 9,2 Prozent, der BMI lag durchschnittlich bei 37. Den primären Endpunkt, einen HbA1c-Wert im Normalbereich von 6,0 Prozent oder weniger, erreichten 2 von 38 Patienten (5 Prozent) in der Pharmakotherapie-Gruppe, 14 von 49 Patienten (29 Prozent) mit Magenbypass und 11 von 47 Patienten (23 Prozent) mit Sleeve-Gastrektomie. 45 (Magenbypass) beziehungsweise 25 Prozent (Sleeve-Gastrektomie) kamen ohne Insulin aus und galten im diabetologischen Sinne als geheilt. Auch beim Gewichtsverlust gab es signifikante Unterschiede. Probanden verloren beim Magenbypass im Schnitt 23 Prozent ihres Körpergewichts, 19 Prozent beim Schlauchmagen und 5 Prozent bei der Pharmakotherapie. Studiendaten lassen sich nicht zwangsläufig auf den klinischen Alltag übertragen. Die Patienten waren bei Jérémie Thereaux im Median nur 39 Jahre alt, bei Schauer 49 Jahre. Ob ihre Ergebnisse auch bei deutlich älteren Patienten gelten können, bleibt offen. Gerade Senioren leiden häufig an Adipositas und werden zur Zielgruppe für Eingriffe, wie Zahlen aus Deutschland zeigen: Adipositas (BMI ≥ 30) in Deutschland: Anteile an der gleichaltrigen Bevölkerung © Robert Koch-Institut.
Zeit ist noch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Bariatrische OPs bei Adipositas sind ein Relikt der letzten Jahrzehnte. Die Methode selbst ist alt, die Patienten sind teilweise jung. Welche Folgen vielleicht Jahrzehnte später auf sie zukommen, weiß niemand. Patientenregister reichen etwas mehr als zehn Jahre zurück. Ralph Peterli vom St. Claraspital Basel berichtet über Revisionseingriffe innerhalb von fünf Jahren. Als Rate gibt er 16 von 101 (15,8 Prozent) nach Sleeve-Gastrektomien und 23 von 104 (22,1 Prozent) nach nach Roux-en-Y-Magenbypass-OPs an. Auch die psychosoziale Nachsorge muss beispielsweise wegen des höheren Risikos selbstverletzender Verhaltensweisen nach einer bariatrischen OP konsequent umgesetzt werden. Viele adipöse Patienten leiden bereits vor einem Eingriff an psychischen Störungen wie Depressionen. Übertriebene Erwartungen an die Operation können das psychiatrische Krankheitsbild verschlimmern. Professor Dr. Hans Hauner, München, rät mindestens einmal jährlich zum Blutbild, zur Gewichtsdokumentation, zur Knochendichtemessung und zur Bestimmung des Körperfettanteils. Je nach Laborwerten sind Eisen, Vitamin B12, Folsäure, Calcium, Vitamin D bzw. Vitamin B1 einzunehmen. Außerdem fordert Hauner Ernährungsberatung und regelmäßige körperliche Aktivität. In der Praxis bestehen hier noch eklatante Defizite: „Ich kenne Todesfälle, die hätten nicht sein müssen, wenn man die Patienten besser betreut hätte“, so Dr. Klaus Winckler, Internist aus Frankfurt. Er kritisiert fehlende Angebote zur Nachsorge und verweist auf Modellprojekte.
Damit bleibt als Fazit: Bariatrische OPs führen zur Gewichtsreduktion. Sie verringern die Inzidenz von Hypertonie und von Typ-2-Diabetes. Allerdings ist es schwer, langfristige Aussagen zu treffen. Interessenkonflikte sind beim Kampf um die richtige Therapie durchaus wahrscheinlich. Krankenkassen wollen kurzfristige Ausgabensteigerungen vermeiden, während Chirurgen Eingriffe bevorzugen und pharmazeutische Hersteller auf ihre Präparate schwören. Gemessen an Nachbarstaaten ist Deutschlands Haltung zu restriktiv. Mehr zu operieren ohne Wenn und Aber löst keine Probleme. Patienten benötigen lebenslange Unterstützung. Dazu fehlen momentan die Möglichkeiten.