COVID-19-Patienten scheinen eine pathologische Aktivierung der Blutgerinnung aufzuweisen, legen neue Studien nahe. Eine Einschätzung zum Thema.
Wenn das Leben eine Talkshow wäre, dann wäre COVID-19 gerade Dauergast und eines von vielen Themen wäre: Gerinnung. Wir gehen davon aus, dass einige unserer Leser momentan nur wenig Zeit haben. Deshalb steigen wir gleich ein, und auch wenn es um Gerinnung geht – keine Sorge. Wenn ich es verstanden habe, dann ist das Niveau wohl doch nicht all zu hoch.
Zur Zeit wird viel über die Einordnung verschiedener Phänomene bei COVID-19-Pneumonie diskutiert: die mehr oder wenige vielversprechende Behandlung mit Medikamenten (u.a. Chloroquin), zu denen qualitativ sehr durchwachsene Studien publiziert wurden; die Hinweise, dass SARS-CoV-2 nicht nur bei Diabetikern zu Entgleisungen führt, sondern auch Diabetes-Erstmanifestationen hervorruft (Diabetes UK) und wem das alles noch nicht genug ist: Neue wissenschaftliche Studien legen nahe, dass ein relevanter Anteil von mit SARS-„Die Wundertüte“-CoV-2 infizierten Patienten eine pathologische Aktivierung der Blutgerinnung aufweisen.
Wir leben stärker als je zuvor in einer Welt der Unsicherheit. Selten wurde so wild diskutiert. Es gibt mehr COVID-Experten als Infizierte, jeder scheint (berechtigt oder nicht) eine Meinung und Erklärungsmodelle parat zu haben – hoch spannend für uns, unerfreulich für unsere Patienten.
Theorien u.a. zu HAPE und Hämoglobin sind nach Meinung der Autoren derweil schon veraltet und tauchen deshalb nicht im Wasser des obigen Bildes auf.
Unbestreitbar ist allerdings, dass vermehrt Gerinnungsphänomene beobachtet werden. Dies scheint vor allem bei schwer kranken Patienten – mit ohnehin erhöhtem Thrombembolierisiko – ausgeprägt zu sein. Die beobachteten Veränderungen des Gerinnungssystems entsprechen im Wesentlichen denen, die auch bei Patienten mit Sepsis beobachtet werden können (Gratz 2020). Bei COVID-19-Patienten können diese Veränderungen zu Komplikationen führen, wie z.B. venösen Thrombembolien (VTE) oder Lungenarterienembolien (LAE), und hierdurch die Mortalität noch weiter ansteigen lassen. Dabei muss es nicht unbedingt zu fulminanten Embolien kommen – Mikrothrombosen der Lunge werden in Autopsieberichten beschrieben (Dolhnikoff & Duarte-Neto 2020, Fox 2020).
Bereits bei Krankenhausaufnahme sieht man im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 häufig eine auffällige Aktivierung der Blutgerinnung (Tang 2020, Huang 2020, Guan 2020). Von Patienten, die auf die Intensivstation aufgenommen werden mussten, fanden sich in 38 % der Fälle eine Koagulopathie (definiert als spontane Verlängerung der Prothrombinzeit [PT] > 3 s oder aktivierte partielle Thromboplastinzeit [aPTT] > 5 s) (Klok 2020). D-Dimere gehören zu den Akut-Phase Markern.
Soweit nix Neues. Allerdings fallen schon zum Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme bei später an COVID-19 Verstorbenen signifikant erhöhte D-Dimere sowie eine verlängerte Prothrombinzeit im Vergleich zu Überlebenden auf (Zhang L 2020, Tang 2020). Die Autoren stellen fest, dass herkömmliche Gerinnungsparameter im Erkrankungsverlauf signifikant mit Prognose und klinischem Verlauf assoziiert sein können, insbesondere stechen die D-Dimere hervor (Lippi 2020, Tang 2020).
Diese scheinen bei COVID-19-Patienten ein aussagekräftiger Parameter zu sein, so fanden Cui et al als Cut-off einen D-Dimer-Grenzwert von 1.500 ng/ml am geeignetsten zur Vorhersage von VTE (Sens. 85,0 %, Spez. 88,5 %, Negativ prädiktiver Wert 94,7 %) (Cui 2020). Zhou et al nennen bei Krankenhausaufnahme >1.000 ng/ml (OR 18.42, 2.64 to 128.55, p=0.0033, im Verlauf weiter deutlich ansteigend) zur Vorhersage einer erhöhten Mortalität (Zhou 2020), Zhang et al sprechen von >2.000 ng/ml (Zhang L 2020).
Der Stellenwert der Thrombozytenanzahl bei COVID-19-Patienten ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht eindeutig. Wenn ihr diesen Satz verinnerlicht, spart ihr euch den folgenden Absatz. Es gibt viel zu diskutieren, aber immer wenn es viel zu diskutieren gibt, heißt das übersetzt „nichts eindeutiges“. Für die Cracks, die es interessiert, hier einmal en detail Evidenzlevel „sehr dünnes Eis“:
Pneumonie-Patienten mit SARS-CoV-2 (n=449) scheinen höhere Thrombos zu haben als Patienten mit anderen Erregern (n=104) auf einer Intensivstation (Yin 2020). Die Thrombozytenzahl bei Aufnahme scheint per se kein guter prognostischer Marker zu sein. Huang et al beobachteten bei 2/40 (5%) Patienten Thrombozytenzahlen < 100 x 109 / l, hiervon war ein Patient intensivpflichtig (Huang 2020). Der Anteil intensivpflichtiger Patienten erhöhte sich nicht wesentlich bei 38/40 (95%) Patienten mit Thrombozyten < 150 x 109 / l (Huang 2020).
Allerdings wird in einer anderen Metaanalyse (n=1.427 Patienten) ein mehr als fünffach erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf bei Thrombopenie (OR 5,1; 95% CI 1,8-14,6) beschrieben, hier war die Thrombozytenzahl nämlich signifikant geringer (gewichtete mittlere Differenz (WMD) -31 x 109 / l; (95% CI von -35 bis -29 x 109 / l) (Lippi 2020). Bei später Verstorbenen fand sich eine noch schwerere Thrombopenie (WMD -48–109 / l; 95% CI -57 bis -39–109 / l).
Fun Fact: Eine Thrombopenie ist bekannterweise häufig mit Sepsis assoziiert und gilt als Indikator für Sepsisschwere und Mortalität (Levi 2005). Bei viralen Infektionen ist eine Thrombopenie häufiger zu finden, meist aufgrund einer gesteigerten Thrombozyten-Clearance. Das kann durch hohe Fibrinogenwerte im Rahmen einer Akut-Phase-Reaktion kompensiert werden, sodass es nicht unbedingt zu einer Blutungsneigung führt.
Ein weiteres Autorenteam untersuchte retrospektiv 138 Patienten mit COVID-19 auf venöse Thrombembolien (VTE) (Padua-Prediction-Score) sowie das Blutungsrisiko unter Thromboseprophylaxe (IMPROVE Bleeding Risk Score) (Xu 2020). Hier zeigten zirka 17 % der Patienten ein hohes Risiko für VTE und 7 % aller Patienten ein hohes Blutungsrisiko. Alle Patienten, die kritisch krank waren, hatten ein doppelt so hohes Thromboserisiko, wohingegen das Blutungsrisiko in dieser Gruppe bei 60 % lag.
Tiefe Venenthrombosen fanden sich in bei insgesamt vier Patienten (3 %), drei davon waren kritisch krank, was formal bedeutet, dass die Inzidenz von VTE bei kritisch kranken Patienten 20 % betrug. Eine schwere Blutung trat bei einem kritisch kranken Patienten während der VTE-Behandlung auf (Xu 2020). In einer anderen Arbeit wurden retrospektiv 1.026 Patienten mit COVID-19 untersucht, wieder unter Zuhilfenahme des Padua-Prediction-Score, 407 Patienten (40%) wiesen ein hohes Risiko für VTE auf (Wang 2020).
Autoren einer weiteren Studie beobachteten tiefe Venenthrombosen (TVT) der Beine bei 20/81 (25 %) Patienten mit COVID-19, von denen 8 Patienten starben. Allerdings: Keiner der Patienten hatte eine Thromboseprophylaxe erhalten (Cui 2020).
In der Studie von Klok et al. erhielten die Patienten Thromboseprophylaxe (Cave: Die Behandlungsschemata zwischen den Krankenhäusern waren sehr unterschiedlich, verwendete Dosen nahmen im zeitlichen Verlauf zu). Die Autoren fanden eine kumulative Inzidenz von 31 % für thrombembolische Komplikationen (95 %; CI 20-41 %), wovon mittels CT-Angio und/oder Ultraschall eine VTE in 27 % (95 %; CI 17-37 %) und arterielle Thrombosen in 3,7 % (95 %; CI 0-8.2 %) der Fälle bestätigt werden konnten (Klok 2020). LAE waren die häufigste thrombotische Komplikation (81 %, n=25), davon 18 segmentale und 7 subsegmentale LAE, gefolgt von 3 venösen Thrombembolien sowie arteriellen Gefäßverschlüssen (3 Schlaganfälle) (Klok 2020).
In Frankreich wird bei 150 Patienten auf Intensivstation über klinisch relevante Thrombosen in 42 % der Fälle berichtet, allerdings wurde hier der Begriff sehr weit gefasst und u.a. Thrombosen in extrakorporalen Kreisläufen mit eingeschlossen. LAE wurden bei 16.7 % gefunden. Im direkten Vergleich mit Nicht-COVID-19-Patienten, die wegen eines ARDS intensivpflichtig waren, hatten COVID-19-Patienten signifikant häufiger thrombotische Events, insbesondere LAE (2.1% vs 11.7%) (Helms 2020).
In einer weiteren Studie aus Mailand, die derzeit noch nicht veröffentlicht ist, sollen bei 388 COVID-19 Patienten in circa 8 % eine LAE nachgewiesen worden sein. Die eigentliche Rate scheint allerdings noch höher zu liegen, da nicht bei allen Patienten Diagnostik gelaufen ist.
In der Gruppe der später Verstorbenen erfüllten 71,4 % der Patienten DIC-Kriterien (0,6% bei Überlebenden, n=1) (Tang 2020). Hierbei betrug die durchschnittliche Manifestationszeit zirka 4 Tage (Range 1-12 Tage). Die schon weiter oben genannte Autorengruppe aus Frankreich konnte allerdings keine gehäufte Anzahl von DIC unter COVID-19-Patienten feststellen (Helms 2020), Klok et al. ebenfalls nicht (Klok 2020), allerdings wurde hierauf nicht systematisch untersucht.
Es lässt sich nicht sicher sagen, ob die genannten Phänomene ein Alleinstellungsmerkmal von SARS-CoV-2 sind oder schlichtweg Konsequenz des Zytokinsturms bzw. der Entzündungsreaktion, wie es auch bei anderen viralen Erkrankungen vorkommen kann (Obi 2019, Fox 2005, Ramazziotti 2019). Antiphospholipid-Antikörper (nichts unbedingt Neues) und Leberdysfunktion als Ursache stehen auch noch zur Debatte (Helms 2020, Zhang Y 2020, Zhang C 2020). Oder die COVID-19 Pneumonie in ihrer schweren Verlaufsform sorgt für klassisches ARDS mit hypoxischer Vasokonstriktion, pulmonaler Hypertonie, daraus folgender Rechtsherzbelastung. Darauf aufbauend ist eine (mikrovaskuläre) Thrombose der Lunge wohl eine schlechte Kombi (Bikdeli 2020).
Auch mit einer regelhaften Thromboseprophylaxe erscheint die Inzidenz thrombembolischer Komplikationen bei Intensivpatienten mit SARS-Cov-2-Infektion bemerkenswert hoch. Eine krankheitsbedingte LAE bei COVID-19-Pneumonie ist bis vor Kurzem nur in Einzelfallberichten und kleinen Fallserien beschrieben worden (Geerdes-Fenge 2020, Yuanliang 2020, Battista Danzi 2020). Klok et al. fanden die LAE als häufigste thrombotische Komplikation (81 %) in ihrer Kohorte. Folgende Ursachen könnten die gefundene erhöhte Inzidenz thrombembolischer Ereignisse bei COVID-19-Patienten erklären:
Die Untersuchungsmöglichkeiten von sedierten und intubierten Patienten sind meist eingeschränkt, subjektive Beschwerden können eher nicht geäußert werden. Dass wir es nunmal mit infektiösen und deshalb isolierten Patienten zu tun haben, führt vermutlich zu einer unregelmäßigen apparativen Diagnostik, selbst POCUS (Point of Care Ultrasound) am Patientenbett erscheint zeitaufwändig (Hygiene, Lagerungsmöglichkeiten etc.), bindet Ressourcen oder kann schlichtweg an fehlender Expertise des behandelnden Personals scheitern. Natürlich liegt der Fokus des ITS-Personals vorrangig auf der Behandlung der Infektion (v.a. Sedierung, Beatmung, Flüssigkeitsmanagement) und nicht so sehr auf regelmäßigem VTE-Screening.
Der Intrahospitaltransfer des isolierten Intensivpatienten, z.B. für eine CT-Untersuchung, gestaltet sich ohnehin häufig schwierig und kann sich verzögern oder (aufgrund von Kapazitätsproblemen) möglicherweise ganz unterbleiben. Regelmäßige Verlaufskontrollen (z. B. spezifische Laborwerte) erfolgen flächendeckend noch nicht standardisiert. Das Fehlen allgemein gültiger Cut-off-Werte (z. B. D-Dimere) und die auch zu Nicht-Pandemie-Zeiten eher sporadische Anwendung von Scoringsystemen zur Detektion von Thrombembolien können einer rechtzeitigen Eskalation der einfachen Thromboseprophylaxe auf eine notwendige therapeutische Antikoagulation sehr effektiv im Weg stehen.
Eine regelmäßige Erhebung von Parametern der Blutgerinnung erscheint sinnvoll. Bei Intensivpatienten sollen regelmäßig Thrombozytenzahl, D-Dimere, Prothrombinzeit sowie Fibrinogen erhoben werden um (entsprechend den ISTH-Kriterien) das Auftreten einer DIC rechtzeitig zu erkennen (siehe Abb. der ISTH). Darüber hinaus erscheint eine regelmäßige Messung der Antithrombin-Aktivität sinnvoll.
Bei signifikant erhöhten D-Dimeren (≥ 1.500-2.000 ng/ml) ist eine medikamentöse Thromboseprophylaxe indiziert und eine stationäre Aufnahme sollte erwogen werden. Die Indikation zur VTE-Prophylaxe sollte unabhängig von der Notwendigkeit einer Hospitalisierung fortlaufend geprüft und großzügig gestellt werden.
Eine konsequente Thromboseprophylaxe mit im Normalfall niedermolekularen Heparinen (NMH), bzw. bei entsprechender Indikation therapeutischer Antikoagulation, sollte bei allen hospitalisierten COVID-19-Patienten vorgenommen werden. Es bietet sich hier eine längere Diskussion NMH vs unfraktioniertes Heparin an, das sprengt aber leider den Rahmen. NMH wird in den Guidelines genannt (wohl v.a. zur Kontaktreduzierung).
Ob Intensivpatienten mit COVID-19 von einer höheren Dosierung der medikamentösen Thromboseprophylaxe bzw. einer therapeutischen Antikoagulation profitieren, ist Gegenstand laufender Untersuchungen. Im Sinne einer Expertenmeinung kann in dieser Patientengruppe primär eine „semitherapeutische“ Antikoagulation (z. B. Enoxaparin 0,5 mg/kgKG s.c. 1-0-1) erwogen werden. Bei extrakorporalen Organersatzverfahren (z.B. ECMO-Behandlung, CRRT) sollte unter Verwendung von unfraktioniertem Heparin (UFH) eine 1,5-bis 1,8-fache Verlängerung der aPTT angestrebt werden.
Am Rande sei ein Paper erwähnt, das über drei kritisch kranke COVID-19 - Patienten berichtet. Den Patienten wurde probeweise einmalig tPA verabreicht, woraufhin sich der Oxygenierungsindex besserte, allerdings nur transient (Wang 2020).
Disclaimer: Wie das meiste, das wir zur Zeit im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 besprechen, basiert auch dieser Artikel auf Studien mit einem niedrigen Evidenzlevel, Erfahrungsberichten und einer ordentlichen Prise Eminenz. Mit Vorsicht genießen!
Lifehack: Viele COVID-19-Studien lesen, die methodisch fragwürdig und hoffnungslos underpowered sind und so einen Friseurbesuch sparen, weil man sich die Haare ausreißt. Für Studienkritik hatten wir leider keinen Platz, denn in diesen Text sind immerhin >20 Paper eingeflossen. In jedem Fall legen wir euch ans Herz, die Originalarbeiten zu lesen.
Bessere Evidenz als die, die wir zur Zeit haben, haben wir halt nicht.
Thank you for coming to my TED talk.
Stand des Artikels: 21.04.2020
Artikel von Justus, Notfallmedizin-Enthusiast in der Arztschule mit Vorerfahrung im Blaulichtmilie, und Thorsten Hess, seines Zeichens gewiefter Intensivmediziner, Fachbuchautor.
Wie immer gilt: Der Einzelfall entscheidet. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position des Autors dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von dasFOAM.
Quellen des Empfehlungs-Abschnitts:Empfehlung der Arbeitsgruppe Perioperative Gerinnung der ÖGARI zum Thema: Gerinnungsmanagement bei COVID-19. V1.0ISTH interim guidance on recognition and management of coagulopathy in COVID-19GTH Empfehlungen zur Thromboseprophylaxe bei SARS-CoV-2
Weiterführende Quellen:American Society of Hematology: COVID-19 and VTE/AnticoagulationJournal of the American College of Cardiology Recommendations (State-of-the-Art Review)
Bildquellen: Praewthida K, unsplash
Eisberg: Wikimedia Commons, veröffentlicht unter Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International Lizenz