Bis zur Entbindung wächst der Fötus steril im Bauch der Mutter auf. Bis vor kurzem schien dieser Satz über alle Zweifel erhaben. Doch inzwischen mehren sich die Hinweise, dass menschliches Leben schon vor der Geburt ein bakterielles Mikrobiom besitzt.
Bei Kaiserschnitt-Kindern gibt es Hinweise auf ein erhöhtes Krankheitsrisiko, insbesondere für Zöliakie, Diabetes, Asthma und andere Autoimmunkrankheiten. Schuld daran soll eine gestörte Mikrobiombildung des Kindes sein. Per Sectio geborene Kinder kommen nicht mit dem Vaginalsekret der Mutter in Berührung, mit dem das mütterliche Mikrobiom übertragen wird. „Vaginal Seeding“ hat deswegen inzwischen einen festen Platz im gynäkologischen Vokabular. Ob die Einreibung der Sectio-Entbundenen mit dem Vaginalsekret aber tatsächlich etwas bringt, ist indes noch umstritten. Dennoch wird es inzwischen von viele Geburtsstationen in Australien, den USA und Großbritannien praktiziert. Bislang wurde angenommen, dass mit dem Vaginalsekret das mütterliche Mikrobiom schnellstmöglich in den vermeintlich sterilen Babydarm übertragen wird. Allerdings häufen sich nun die Hinweise, dass der Fötus bis zur Geburt gar nicht in einer völlig sterilen Umgebung heranreift, sondern schon lange vorher von Mikroben besucht wird.
Mehr als ein Jahrhundert überlebte das Dogma des französischen Wissenschaftlers Henry Tissier. Aus seinen Untersuchungen Anfang des vorigen Jahrhunderts schloss er, dass es in der Gebärmutter ausschließlich humane Zellen gäbe. Bis weit nach der Jahrtausendwende galt die Plazenta, ähnlich der Blut-Hirn-Schranke, als Schutzwall des fötalen Kreislaufs – nicht nur gegen unerwünschte Eindringlinge, sondern auch gegen mütterliche Antikörper oder toxische Substanzen. Im Jahr 2011 startete Indira Mysorekar von der Washington University in St. Louis ihre Untersuchungen an Schnitten von etwa 200 Plazentas gebärender Frauen. In rund jedem dritten Schnitt fand das Team Bakterienspuren meist intrazellulärer Organismen. Um welche Bakterienarten es sich dabei genau handelte, konnten sie nicht herausfinden. Anhand der histologischen Schnitte war nur ein morphologischer Nachweis möglich. Da Wissenschaftler aber keine Spuren einer Reaktion des Immunsystems nachweisen konnten, gingen sie davon aus, dass es sich nicht um pathogene Bakterien handelte. Außerdem kamen die Bakterien sowohl bei Frühgebärenden als auch bei Frauen mit völlig normalem Schwangerschaftsverlauf vor. Bislang brachte man bakterielle Besiedlungen der Plazenta mit vorzeitigen Wehen in Zusammenhang. So konnten einige Labors bei Frühgeburten Infektionen mit unterschiedlichen Bakterienstämmen und vermehrt Entzündungsmarker im Fruchtwasser nachweisen. Ob die Mikroorganismen aber tatsächlich eine aktive Rolle bei der vorzeitigen Entbindung spielen, ist bisher nicht bewiesen.
Woher die Bakterien kommen und wann sie in die Plazenta eingewandert sind – darüber gibt es bislang mehr Spekulationen als klare Hinweise. Fest steht, dass der zervikale sogenannte Kristellsche Schleimpfropf für vaginale Bakterien nicht undurchdringlich ist. Bei nichtschwangeren Frauen konnten Forscher die Migration der Bakterien von der Vagina in den Uterus klar nachweisen. In Mäusen ist auch die hämatogene Route in die Gebärmutter belegt. Weitere mögliche Eintrittspforten für die Besiedlung bieten intrauterine Verhütungssysteme oder Werkzeuge bei der künstlichen Befruchtung.
Kjersti Aagaard vom Baylor College of Medicine in Houston fiel bei der Analyse von über 300 Plazentas auf, dass die gefundenen Bakterienspezies in der Plazenta nicht mit denen der Vaginalflora der Mutter übereinstimmten. Stattdessen wiesen die Bakterien die größte Ähnlichkeit mit denen der Mundflora auf. Die Forscher schlossen daraus, dass die Bakterien über die hämatogene Route in die Plazenta gelangten. Neueste Ergebnisse aus dem Labor von Kjersti Aagaard bestärken die Evidenz für eine dünne, aber regelmäßig vorkommende Plazentaflora. Bei 55 Proben, bei der bakterielle RNA mittels in-situ-Hybridisierung auf dem Gewebeschnitt sichtbar wird, gelangen in allen Proben entsprechende Nachweise. Einer finnischen Gruppe glückte es 2016, eine Kultur von nichtpathogenen Bakterien aus der Plazenta anzulegen.
Auch im Fruchtwasser und im Mekonium kommen Bakterien vor, die einander ähneln. Wahrscheinlich gelangen diese Keime also schon im Mutterleib in den Darm des Ungeborenen, wo sie die Basis für die neu entstehende Flora im Säugling bilden könnten. Für einige Bakterienstämme wie E. coli, Enterococcus faecium und Staphylococcus epidermidis konnte das im Mausexperiment explizit gezeigt werden. Markierte Bakterien im Futter schafften es bei schwangeren Mäusen bis in die Amnionflüssigkeit.
Noch sind allerdings nicht alle Skeptiker überzeugt, dass der Fötus schon im Mutterleib mit Bakterien in Berührung kommt. Einige vermuten bei dem sensiblen DNA-Nachweis eine mögliche Kontamination bei der Probenentnahme oder -aufbereitung. Bei den Untersuchungen fanden sich immer nur geringe Spuren bakterieller Anwesenheit, in denen Kritiker ein Versuchs-Artefakt sehen. Nicht immer und nicht in allen Labors gelang es, wie bei den Wissenschaftlern von St. Louis, einer bakteriellen Besiedlung des Fötus nachzuweisen. Problematisch ist auch, dass ein DNA-Nachweis nicht zwischen toten und lebenden Bakterien unterscheidet. Nur etwa ein Prozent der mit DNA-Nachweis gefundenen Bakterien wachsen unter synthetischen Kulturbedingungen. Es lässt sich dadurch also nicht genau sagen, ob die gefundenen DNA-Spuren eine dauerhafte oder nur eine kurzzeitige bakterielle Besiedlung darstellten. Könnte man diese Bakterien nachzüchten, wären die Hinweise auf eine dauerhafte Besiedlung deutlich stärker.
Möglicherweise sind die gefundenen Mitbewohner des Fötus auch nur „vorüberziehende Touristen“ und deren DNA eine Spur ihrer zeitweiligen Anwesenheit. Aber selbst, wenn die Bakterien nur zeitweise anwesend sind, könnten bakterielle Stoffwechselprodukte beispielsweise die Reaktion des fötalen Immunsystems beeinflussen. Möglich ist somit, dass die zukünftige Immunabwehr des Embryos durch diese nichtpathogenen Mitbewohner „trainiert“ wird. Es spricht viele dafür, dass ein fötales Mikrobiom schon während der Schwangerschaft gebildet wird, ein eindeutiger Beweis muss aber noch erbracht werden.