Mit den Lockerungen der Corona-Maßnahmen befürchten Experten, dass Deutschland bald eine zweite Infektionswelle trifft. Könnte „intermittierendes Social Distancing“ die Lösung sein?
Mit der Öffnung von Schulen und Geschäften will Deutschland allmählich zur Normalität zurückkehren. Doch Wissenschaftler befürchten, dass eine vorschnelle Lockerung der Distanzierungsmaßnahmen zu einer zweiten Infektionswelle führt. In dem Fall müssten die strikten Distanzierungsmaßnahmen wieder von vorn beginnen. Oder ist genau das die richtige Strategie?
Anders als bei der SARS-Pandemie von 2003 lässt sich SARS-CoV-2 wohl nicht so schnell durch weltweit geltende strenge Maßnahmen vollständig ausrotten. Dafür ist das Virus schon zu weit verbreitet und der Verlauf der Infektion mit dem neuen Coronavirus bei den meisten Menschen zu mild – viele Infizierte fühlen sich nicht krank genug, um zu Hause zu bleiben oder sind schon vor Symptombeginn ansteckend.
Der Epidemiologe Michael Meyer-Hermann plädiert dafür, strenge Kontaktverbote noch mehrere Wochen durchzuziehen. Damit könne man das Virus austrocknen, erklärt er in der ARD-Talkshow Anne Will. Wenn durch radikale Maßnahmen in einem relativ kurzen Zeitfenster Kontakte so sehr reduziert würden, dass sich das Virus nicht mehr verbreiten kann, gäbe es die Chance, die verbleibenden Fälle mit Methoden wie Kontakt-Tracing durch Apps und Tests zu kontrollieren.
Das erinnert stark an die Strategie vieler asiatischer Länder, die lange als Vorbild im Kampf gegen Corona galten. In Singapur, Taiwan und Hongkong konnte die Ausbreitung von SARS-CoV-2 anfangs durch breite Testung und Tracking der Bevölkerung effektiv ausbremst werden.
Doch trotz der erfolgreichen anfänglichen Eindämmung stiegen in den letzten Wochen die Infektionszahlen wieder an. Das liegt vermutlich an der Lockerung der Reisebeschränkungen, viele Staatsbürger oder ausländische Geschäftsleute kehrten aus anderen Ländern zurück und brachten das Virus wieder mit. Aber auch Infektionen ohne Verbindungen ins Ausland sollen wieder vermehrt aufgetreten sein. Als Reaktion haben diese Länder ihre Distanzierungsmaßnahmen wieder bzw. neuerdings verschärft.
In Singapur spricht man aktuell sogar schon von einer dritten Infektionswelle – hier lassen Neuinfektion unter Gastarbeitern die Infektionszahlen explodieren.
In einer chinesischen Studie warnen Forscher sogar davor, die Maßnahmen zu lockern, ehe es einen Impfstoff gibt. Die Autoren geben einen Überblick über die geographische Verteilung der beobachteten Verläufe bekannter Infektionen in allen chinesischen Provinzen sowie der Abfolge der verschiedenen Maßnahmen, die in China in den letzten Monaten ergriffen wurden.
Die Autoren stellen zunächst fest, dass die Basisreproduktionszahl in den Provinzen mithilfe der Inteventionen auf deutlich unter 1 gedrückt werden konnte. Aus den Daten leiteten sie ab, dass ein Lockern der Interventionen (mit dem Ergebnis R >1) in einem erneuten exponentiellen Anstieg der kumulativen Fallzahl resultieren würde. Bei einer weitgehenden Lockerung der Maßnahmen würde sich bereits nach 10 Tagen die Zahl der Neuinfektionen verzehnfachen. Und es würde dann nach Wiedereinführung der Maßnahmen ein bis 2 Monate dauern, die Infektionszahlen wieder auf das aktuelle Niveau abzusenken.
Die Autoren empfehlen eine vorsichtige Strategie, die eine teilweise wirtschaftliche Normalisierung ermöglicht, aber durch eine sehr intensive und aktuelle Überwachung der Reproduktionszahl die gesundheitlichen Folgen begrenzen soll. Diese Strategie soll beibehalten werden, bis die Bevölkerung durch einen Impfstoff geschützt werden kann. Sie gehen davon aus, dass Maßnahmen wie soziale Distanz „einige Zeit“ beibehalten werden müssen.
Ohne Herdenimmunität, die sich leicht durch einen Impfstoff aufbauen ließe, ist das erneute Aufflammen von Infektionen wahrscheinlich. Dass uns in Europa ebenfalls eine zweite Welle trifft, ist allen Modellrechnungen nach zu urteilen wahrscheinlich. Die Frage ist, wie hart sie uns treffen wird. Mit einem Impfstoff rechnet man erst im nächsten Jahr und bei kompletter Kontaktsperre kann keine Herdenimmunität aufgebaut werden. Es müssten also Maßnahmen eingeführt werden, die über einen längeren Zeitraum durchgehalten werden können, die Herdenimmunität erhöhen und das Gesundheitssystem nicht überlasten.
Wissenschaftler vom Imperial College London schlagen deshalb eine flexible Strategie vor: Die Distanzierungsmaßnahmen könnten je nach Bedarf verhängt und wieder aufgehoben werden – und das über einen längeren Zeitraum hinweg. Ihren Modellrechnungen nach könnten die Maßnahmen in Großbritannien, einschließlich der Schließung von Schulen und Universitäten, für weite Teile der nächsten zwei Jahre erforderlich sein, um den Anteil der Menschen mit schweren COVID-19-Infektionen im Krankenhaus auf einem überschaubaren Niveau zu halten.
Ein periodisches Social Distancing schlagen auch Epidemiologen von der Harvard University in ihrer Studie vor: Ihnen zufolge könnten diese Maßnahmen in den Vereinigten Staaten bis ins Jahr 2022 andauern, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern.
Mark Woolhouse, Professor für Infektionsepidemiologie an der University of Edinburgh, kommentiert die US-Studie gegenüber dem Science Media Center folgendermaßen: „Die Studie wirft die Möglichkeit auf, dass wiederholte soziale Distanzierungsmaßnahmen erforderlich sind, um die Zahl der COVID-19-Krankenhausaufenthalte und Todesfälle über einen Zeitraum von mehreren Jahren auf einem überschaubaren Niveau zu halten. Diese Aussicht wurde bereits früher hervorgehoben und ist ein wichtiger Aspekt beim Versuch, diese Pandemie in den Griff zu bekommen.“
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