Die Zahl der Infektionen mit SARS-CoV-2 ist in allen betroffenen Ländern eventuell deutlich höher als angenommen. Wissenschaftler vermuten, dass bislang im Schnitt nur etwa sechs Prozent aller Infektionen weltweit nachgewiesen wurden.
Um die Qualität der offiziellen Fallaufzeichnungen zu prüfen, nutzten die Entwicklungsökonomen Dr. Christian Bommer und Prof. Sebastian Vollmer Schätzungen der Mortalität von COVID-19 und der Zeit bis zum Tod.
Sie stützen sich dabei auf eine kürzlich in The Lancet Infectious Diseases veröffentlichten Studie. Ihre Berechnungen implizieren, dass die tatsächliche Zahl der Infizierten weltweit bereits mehrere zehn Millionen erreicht haben könnte. Ihre Ergebnisse sind hier verfügbar.
Unzureichende und verzögerte Tests könnten erklären, warum einige europäische Länder wie Italien und Spanien viel höhere Opferzahlen (im Vergleich zu den gemeldeten bestätigten Fällen) aufweisen als Deutschland. Hier wurden bislang schätzungsweise 15,6 Prozent der Infektionen festgestellt, verglichen mit nur 3,5 Prozent in Italien oder 1,7 Prozent in Spanien.
Die Entdeckungsraten sind in den USA (1,6 Prozent) und in Großbritannien (1,2 Prozent) sogar noch niedriger – zwei Länder, die von Experten des öffentlichen Gesundheitswesens wegen ihrer verzögerten Reaktion auf die Pandemie kritisiert wurden. In scharfem Gegensatz dazu scheint Südkorea fast die Hälfte aller seiner SARS-CoV-2-Infektionen entdeckt zu haben.
Die Autoren schätzen, dass bis zum 31. März 2020 in Deutschland 460.000 Infektionen aufgetreten waren. Zum aktuellen Zeitpunkt gibt es hierzulande offiziell 132.210 Corona-Infizierte (Stand 15.4.2020, 11:23 Uhr). Auf der Grundlage der gleichen Methode berechnen sie, dass in den USA über zehn Millionen, in Spanien über fünf Millionen, in Italien etwa drei Millionen und in Großbritannien etwa zwei Millionen Infektionen aufgetreten sind. Am selben Tag berichtete die Johns Hopkins University, dass es weltweit weniger als 900.000 bestätigte Fälle gab, was bedeuten würde, dass die überwiegende Mehrheit der Infektionen bislang unentdeckt blieb.
„Diese Ergebnisse bedeuten, dass Regierungen und politische Entscheidungsträger bei der Interpretation der Fallzahlen zu Planungszwecken äußerste Vorsicht walten lassen müssen. Solche extremen Unterschiede in Umfang und Qualität der in den verschiedenen Ländern vorgenommenen Tests bedeuten, dass die offiziellen Fallzahlen keine hilfreichen Informationen liefern“, erklärt Vollmer.
Bommer ergänzt: „Die Fähigkeit, neue Infektionen zu erkennen und damit die Ausbreitung des Virus einzudämmen, muss dringend verbessert werden.“
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung der Georg-August-Universität Göttingen
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