Immer häufiger entscheiden sich Bürger für eine Patientenverfügung, damit Ärzte am Lebensende in ihrem Sinne entscheiden. Doch viele Dokumente sind falsch formuliert oder nicht auffindbar. Die Lösung: Advance Care Planning.
Seit 2008 liegt Vincent Lambert aus Reims im Wachkoma. Seine Frau fordert zusammen mit einigen Geschwistern, die künstliche Ernährung einzustellen – seine Eltern lehnen dies ab. Kürzlich stellte ein Verwaltungsgericht klar, Ärzte könnten nicht gezwungen werden, derartige Maßnahmen zu beenden. Zuvor mussten sich Juristen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit Lamberts Fall befassen. Was er selbst gewollt hätte, bleibt unklar.
Kein Einzelfall. Schätzungen zufolge können bis zu 70 Prozent am Lebensende ihren Willen nicht mehr selbst äußern. Selbst so manches Schriftstück stiftet Verwirrung. „Mein Wunsch ist, wenn ich einmal krank werde, nicht an Geräten oder Schläuchen zu hängen“, schrieb eine 87-jährige Heimbewohnerin. Sie hatte Gehirnblutungen erlitten – und guter Rat war teuer. Laien formulieren ihre Wünsche oft aus Emotionen heraus, weil sie den Leidensweg naher Angehöriger erleben mussten.
Regierungsvertreter kennen die Thematik seit Jahren. Ihnen ist es mit dem dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts aber nur bedingt gelungen, Interessen bei Einwilligungsunfähigkeit zu erfassen. Das Bürgerliche Gesetzbuch steckt über Paragraph 1901a (Patientenverfügung) und Paragraph 1901b (Gespräch zur Feststellung des Patientenwillens) einen äußerst groben Rahmen ab. Patienten machen von ihren Möglichkeiten ohnehin kaum Gebrauch. Dazu einige Zahlen: In stationären Einrichtungen zur Seniorenpflege hatten elf Prozent aller Bewohner eine Patientenverfügung, und 1,4 Prozent lediglich eine Vertreterverfügung. Viele Unterlagen zeigten eklatante Defizite. Bei 52 Prozent fehlten Hinweise auf die Einwilligungsfähigkeit oder Freiwilligkeit zum Verfügungszeitpunkt. Hinweise auf Beratungsgespräche durch einen Arzt gab es nur bei drei Prozent der Unterlagen. Mangelhafte Aussagen bei akut auftretender Nichteinwilligungsfähigkeit respektive Ausschluss bestimmter Behandlungsmethoden kamen mit hinzu. Selbst Angehörigen ist oft schleierhaft, welche Entscheidung ihre Lieben selbst getroffen hätten. Systematischen Reviews zufolge gab es in jedem dritten Fall keine Übereinstimmung. Kollegen stehen vor der unlösbaren Aufgabe, im Notfall richtig zu handeln.
Wie so oft, macht Information den Unterschied [Paywall]. Bei ärztlich organisierten Beratungsseminaren hatten 25 Prozent aller Teilnehmer eine Patientenverfügung. Danach äußerte fast jeder Befragte den Wunsch, sein Dokument zu ändern. Lediglich zehn Prozent gaben an, sie hätten zuvor medizinischen Rat eingeholt. Doch wie gelingt es, ein System der gesundheitlichen Vorausplanung zu implementieren? In den USA und in Australien gehören umfassende Versorgungspläne („Advance Care Planning“) seit Jahrzehnten zum medizinischen Alltag. Drei Modelle: Respecting Choices® Advance Care Planning, Life Care Planning oder POLST® (Physician Orders for Life-Sustaining Treatment). Ärzte bieten Patienten Gespräche über zukünftige Behandlungen an. Falls gewünscht, binden sie Angehörige ebenfalls mit ein. Am Ende des Prozesses entsteht ein aussagkräftiges, strukturiertes Dokument, in dem auch Vertreter erfasst werden. Entsprechende Aufzeichnungen begleiten Patienten in das Krankenhaus oder in das Heim – als zentraler Bestandteil der Krankenakte. Laien werden regelmäßig aufgefordert, ihre Entscheidungen zu überprüfen. Das kann etwa bei neuen Diagnosen sinnvoll sein.
Was theoretisch schlüssig wirkt, muss aber noch lange nicht in der Praxis funktionieren. Deshalb hat Bernard J. Hammes von der Gundersen Lutheran Medical Foundation, La Crosse, knapp 1.000 Datensätze untersucht [Paywall]. Benötigten Ärzte Patientenentscheidungen, lag die Verfügbarkeit bei 99,6 Prozent. Dabei waren 93 Prozent inhaltlich aussagekräftig genug, um eine Entscheidung zu treffen. Das Fazit: 99,5 Prozent aller Ärzte folgten dem Wunsch von Patienten. Zu ähnlichen Resultaten kommt Karen M. Detering bei der Analyse von Daten aus einem Uniklinikum in Melbourne. Sie wies 309 Patienten randominisiert zwei Gruppen zu. Von ihnen erhielten 154 Leistungen gemäß Advance Care Planning. Weitere 108 dokumentierten als „Kontrollgruppe“ ihre Wünsche auf konventionellem Wege. Nach sechs Monaten waren 56 Personen verstorben. Detering schreibt, bei Personen der Interventionsgruppe seien Wünsche signifikant häufiger berücksichtigt worden (86 versus 30 Prozent). Mit der Behandlung waren Familienangehörige deutlich zufriedener (83 versus 48 Prozent).
Detering selbst bewertet Advanced Care Planning deshalb als „signifikante Verbesserung der Selbstbestimmung und der Versorgung am Lebensende“. Deutschland hat hier gewaltigen Nachholbedarf. Vom geplanten Hospiz- und Palliativgesetz erwartet niemand entscheidende Impulse. Jetzt sind Ärzte gefragt, gemeinsam mit Kammern aktiv zu werden. Ein Beispiel: „beizeiten begleiten“ aus dem Rhein-Kreis Neuss.