In den meisten Physio-Praxen soll der Betrieb trotz der erhöhten Ansteckungsgefahr durch SARS-CoV-2 normal weitergehen. Wie es dort wirklich zugeht, erzählen uns zwei Physiotherapeutinnen.
Die COVID-19-Pandemie sorgt auch in der Physiotherapie für Probleme. Als unverzichtbarer Bestandteil des Gesundheitssystems bleiben die Praxen zunächst offen, der Betrieb soll normal weitergehen und die therapeutische Versorgung gesichert werden. Aber was heißt jetzt eigentlich normal? DocCheck hat mit zwei Physiotherapeutinnen aus Nordrhein-Westfalen über die aktuelle Lage in den Therapieeinrichtungen gesprochen.
Carina (29) ist Kindertherapeutin in einem Therapiezentrum in Duisburg. Ihr Arbeitsalltag gestaltet sich momentan sehr anders als sonst, die Praxis musste Kurzarbeit anmelden. Eine völlig neue Situation für die junge Therapeutin. Einige Termine fallen weg, Behandlungspläne werden zusammengeschoben, damit keine großen Lücken entstehen. So beginnt die Arbeit manchmal etwas später und endet etwas früher.
Gelegentlich werden Patiententermine an einen Kollegen abgegeben, damit dieser einmal einen ganzen Tag voll arbeiten kann und nicht alle Mitarbeiter ständig Wartezeiten zwischen den Behandlungen überbrücken müssen. Die finanzielle Lage ist ungewiss. Einfach schließen darf die Praxis nicht, denn sie gehört zu den Einrichtungen, die die medizinische Grundversorgung sichern sollen.
Bei Christin (26) aus Dinslaken sieht das etwas anders aus. Das Zentrum, in dem sie arbeitet, zählt nicht zu den priorisierten Einrichtungen zur Erhaltung der medizinischen Versorgung. „Darum ist es für uns unglaublich schwer, an Desinfektionsmittel für Hände und Flächen sowie Mundschutz zu kommen. Wir sind quasi gleichgestellt mit dem Normalverbraucher,“ erklärt sie. Der Desinfektionsmittelvorrat im Haus reichte zu Beginn der Krise gerade so bis zur nächsten Lieferung.
Aber immerhin gab es eine Lieferung – in Carinas Praxis werden die Mittel inzwischen knapp. „Wir kriegen kein Material gestellt, wie es eigentlich sein sollte. Wir haben nur das, was da ist. Kittel haben wir im Moment gar nicht.“
Mit Mundschutz arbeiten die Therapeutinnen im Normalfall eigentlich nicht. „Wir haben jetzt zum ersten Mal ein paar Masken ohne Filter bekommen. So können wir zumindest verhindern, dass wir Therapeuten die Patienten anstecken. Ein Schutz für uns selber sind diese Masken allerdings nicht,“ sagt Christin.
Was den jungen Therapeutinnen außerdem zusetzt: Corona wird in den zwischenmenschlichen Begegnungen von Patienten und Kollegen zum Dauerthema. Das macht das Arbeiten deutlich anstrengender. „Im Alltag ist es super schwer, sich auf die Therapien zu konzentrieren. Wir sind alle mit den Gedanken bei der schwierigen finanziellen Lage. Gleichzeitig hoffen wir, dass wir keine stumme Corona-Erkrankung haben und die Viren in unserer Umwelt verbreiten. Wir überlegen natürlich, was werden soll. Einige haben Eigentum abzubezahlen, gründen gerade eine Familie oder haben eine große Reise oder Hochzeit geplant."
Außer SARS-CoV-2 gibt es zur Zeit kein anderes Thema mehr. Mit jedem Patienten fangen die Therapeutinnen von vorne an: „Wie sieht es bei euch denn im Moment so aus?“
Für die Mitarbeiter in den Therapieeinrichtungen gelten grundsätzlich die gleichen Regeln, wie für alle anderen auch: Hände sorgfältig waschen und desinfizieren. Das ist kein Problem. Beim Einhalten des Abstands von mindestens 1,5 Meter wird es schon schwieriger. „Als Physiotherapeutin kann ich zum Patienten schlecht Abstand nehmen. Meistens brauche ich meine Hände und Finger für die Behandlung in direktem Kontakt. Ich kann ja auch einem Baby nicht aus anderthalb Metern Entfernung sagen, es solle sich bitte umdrehen. Das geht nicht,“ meint Carina.
Natürlich könnten einige Übungen vorgemacht und mithilfe kommunikativer Anweisungen durchgeführt werden. Optimal ist diese Form der Therapie auf Dauer aber nicht.
Gesäubert werden in den Zentren aber nicht nur die Hände. Häufig berührte Punkte wie Türklinken und Oberflächen werden regelmäßig, Liegen und Behandlungsutensilien – wie Bälle oder Kraftgeräte – möglichst nach jeder Benutzung desinfiziert. „Wir betreuen auch Patienten in Intensivpflegeeinrichtungen. Bei Risikopatienten, wo wir wissen, dass sie besonders viel Schutz brauchen, behandeln wir auch mit Mundschutz und Handschuhen.“
So ist eine Weiterbehandlung erst einmal möglich, meint die Kindertherapeutin. Sie ergänzt aber: „Handschuhe sind für uns Physiotherapeuten ein Graus. Sie sind hinderlich, weil man dadurch einfach anders fühlt.“ Zum Beispiel funktionierten Lymphdrainagen auf diese Weise nicht so gut.
Auch vermummt vor Kindern zu stehen, sei nicht förderlich. Die jüngsten Patienten hätten dann oft Angst und fingen an, zu weinen. Unter diesen Bedingungen könne eine Behandlung kaum Wirkung zeigen und auf Dauer sogar nachteilig sein.
Carinas Praxis bleibt für ihre Patienten erst einmal weiterhin geöffnet, doch die Verunsicherung bei Patienten und Personal ist groß. „Wir behandeln, wenn es eine Verordnung des Arztes gibt. Dann haben die Patienten auch einen Grund, zu kommen und dann dürfen sie auch ihren Termin bei uns wahrnehmen. Das ist vielen aber gar nicht bewusst“, beschreibt Carina die aktuelle Situation.
Kommunikation ist hier also besonders wichtig. Auch über soziale Medien versuchen die Einrichtungen daher, ihre Patienten zu informieren, dass die Praxis weiterhin geöffnet ist. „Bei uns ist schließlich weniger Ansteckungsgefahr als im Supermarkt“, so die junge Therapeutin.
Um auf alle Fragen vorbereitet zu sein und sich auch selbst sicherer zu fühlen, lesen sie alle Anweisungen und Änderungen immer genau nach, um auch ihren Patienten Ängste und Unsicherheiten nehmen zu können. Aber so richtig gut informiert fühlen sich die beiden Physiotherapeutinnen nicht. Jeden Tag warten sie auf neue Anordnungen und Änderungen durch die Regierung.
Hinzu kommt der Spagat zwischen Sicherheit und Wirtschaftlichkeit. Am sichersten wäre es, wenn die Patienten gar nicht mehr in die Praxis kämen. Allerdings fielen dann auch die Einnahmen weg. Vor allem Personen aus Risikogruppen sagen ihre Termine lieber ab. Ein Großteil der Patienten bricht damit weg.
„Natürlich haben wir ordentliche Einbußen, was Patienten angeht. Da wir als Gesundheitszentrum auch Reha-Therapien ambulant anbieten, haben wir gerade in der Orthopädie massive Patientenverluste. Das kommt daher, dass zur Zeit nur die Notfälle operiert werden und elektive Eingriffe, wie künstliche Gelenke, vertagt werden. Zudem haben viele Patienten ihren Reha-Aufenthalt abgebrochen, weil sie Angst vor einer Ansteckung mit COVID-19 haben,“ sagt Christin.
Im Moment kommen nur 40 Orthopädie-Reha-Patienten zur Therapie. Normalerweise betreut ihre Einrichtung zwischen 80 und 100 Patienten in diesem Bereich. Ähnlich sieht es bei den neurologischen Reha-Patienten aus. Normalerweise behandeln sie zwischen 25 und 30 Fällen, jetzt sind es nur 14 Personen insgesamt.
Gerade von politischer Seite sei vieles einfach zu kurz gedacht, heißt es auch auf der Website des Deutschen Verbands für Physiotherapie (ZVK). Die Politik scheine den großen Stellenwert der Physiotherapie zu vergessen. Das werde vor allem daran deutlich, dass Physiotherapeuten im aktuellen COVID-19-Gesetz nicht berücksichtigt werden.
Eine Pressemitteilung des Spitzenverbands der Heilmittelverbände (SVH) erklärt, dass im Rahmen des Rettungsschirms der Bunderegierung nur kleinere Praxen bezuschusst werden. Dies sei lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein, der die Einrichtungen kaum über die Krise hinweg retten kann.
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