Schwellenländer als Versuchslabor: Mehr als 2.500 Inder sind NGOs zufolge in den letzten Jahren während klinischer Studien verstorben. Nicht immer lassen sich Zusammenhänge herstellen – und mit ein paar tausend Euro räumen Hersteller so manches „Problem“ aus der Welt.
Die Pipeline ist gut gefüllt. Allein bis 2019 sollen rund 120 Krankheiten besser behandelbar oder vermeidbar werden, schätzt der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa). 328 neue Arzneimittel von Mitgliedsunternehmen bewegen sich quasi auf der Zielgeraden. Laut Ernst & Young befanden sich im vergangenen Jahr 3.592 Wirkstoffe in der Entwicklung beziehungsweise in der Zulassungsphase. Eine Erfolgsbilanz – nur woher kommen alle Probanden beziehungsweise Patienten für klinische Studien?
Pharmazeutische Hersteller beauftragen häufig Contract Research Organisations (CROs) mit der Organisation und Durchführung einer Studie. „Indien, China und Russland gehören zwar zu den größten beziehungsweise bevölkerungsreichsten Ländern der Erde, sind aber weiterhin keine bedeutenden Standorte für klinische Studien“, schreibt der vfa. Auf Basis von ClinicalTrials.gov berichtet der Verband von 78 Studien in Indien, 100 in Brasilien, und 206 in Russland. Deutschland (693) oder die USA (2.903) liegen weit darüber. Entsprechende Zahlen sind nur die halbe Wahrheit. Nicht jede Studie wird bei ClinicalTrials.gov registriert – und kein Projekt gleicht dem anderen hinsichtlich möglicher Risiken.
Zwischen Anfang 2013 und Ende 2014 habe es 370 Todesfälle in Zusammenhang mit klinischen Studien gegeben, berichtet die „Times of India“ mit Verweis auf Regierungszahlen. Davon seien 60 Prozent von Aufsichtsbehörden zur Durchführung klinischer Studien untersucht worden. Journalisten kritisieren, staatliche Stellen müssten auf Basis manipulierter oder unvollständiger Daten ermitteln. Zusammenhänge zwischen Tests und Todesfällen können – müssen aber keineswegs bestehen. Viele Probanden litten an Vorerkrankungen. Organisatoren verweigerten trotzdem die Herausgabe von Informationen oder taten ihr Möglichstes, um Autopsien zu verhindern. Nur in 21 Fällen hätten Firmen Entschädigungen gezahlt. Das Spektrum reicht von 400.000 Rupien (rund 5.400 Euro) bis vier Millionen Rupien (rund 54.000 Euro) – sprich Summen aus der Portokasse. Die Dunkelziffer an Opfern ist weitaus höher. NGOs sprechen von mehr als 2.500 Toten und knapp 12.000 schweren Zwischenfällen in den letzten Jahren. CROs finden aber nach wie vor Menschen für weitere Tests.
Sie locken mit medizinischer Versorgung, mit Untersuchungen, Impfungen oder mit Pharmaka bei chronischen Erkrankungen. Zwar existiert in Indien ein mehr oder minder flächendeckendes Gesundheitssystem. An der Ausstattung hapert es jedoch. Und so sind viele Menschen auf privatärztliche Leistungen angewiesen, die sie nicht bezahlen können. Offiziell leben 30 Prozent unterhalb der Armutsgrenze. Dienstleister versprechen medizinische Services, sollten Menschen an einer Studie teilnehmen und Erklärungen unterschreiben, die sie nicht verstehen. Zahlungen kommen als weiterer Anreiz mit hinzu.
Der nächste Anreiz für große Konzerne: Ärzte bieten ihre Unterstützung preiswert an. Sie sind gut ausgebildet, waren oft im Ausland, sprechen Englisch, verdienen aber wenig. CROs entlohnen sie pro Testperson, was dazu führt, dass Mediziner Probanden schlecht aufklären, um möglichst viele Probanden zu rekrutieren. Etliche Inder sind Analphabeten; sie unterschreiben trotzdem seitenlange Erklärungen zur Studienteilnahme. Um Vakzine gegen das Human Papilloma Virus (HPV) zu testen, impften Studienärzte Mädchen teilweise ohne Einwilligung ihrer Eltern in Schulen. Lehrer hatten die Erklärung einfach mal unterzeichnet. Auch hier kam es zu sieben ungeklärten Todesfällen. Dabei stellte sich heraus, dass weder Nachbeobachtungen stattfanden noch Nebenwirkungen systematisch erfasst wurden.
Tests an unwissenden, schlecht aufgeklärten Personen sind nicht nur unethisch – sie gefährden auch die Gesundheit späterer Patienten. „Was ist, wenn etwa Nebenwirkungen nicht gemeldet werden, weil Ärzte Angst haben, ihr Pharmahonorare zu verlieren?“, gibt Professor Dr. Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), zu bedenken. Sein Institut hat etliche Zulassungen generischer Arzneistoffe widerrufen. Der Grund: gefälschte Daten vom indischen Dienstleister GKV Bioscience. Verliert Indien als Standort an Attraktivität, zieht der Pharma-Tross weiter nach Osteuropa, nach Südafrika, Kenia oder Zimbabwe. Auch dort finden CROs Studienteilnehmer für wenig Geld. Unangenehme Fragen stellt niemand.