Wir alle hoffen, italienische Zustände in deutschen Krankenhäusern zu vermeiden. Aber auch wir werden möglicherweise entscheiden müssen, welcher Patient intensivmedizinische Hilfe bekommt – und wer nicht. Wie kann das gehen?
Auch ohne COVID-19 sind wir mit Personalmangel und Überlastung im Gesundheitswesen konfrontiert, diese prekäre Situation wird durch die eskalierende Pandemie noch weiter verstärkt. Opfer der Pandemie werden nicht nur an COVID-19 erkrankte Patienten sein, auch beim Gesundheitspersonal wird die Pandemie ihre Spuren hinterlassen.
Die italienische Fachgesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (SIAARTI) hat ein Konsenspapier mit ethischen Überlegungen im Setting begrenzter Ressourcen herausgegeben. Die Implementierung solcher Empfehlungen ist nicht nur für Patienten, sondern auch für Angehörige von essenzieller Bedeutung. Intensivmedizin ist auch ohne Pandemie ein Bereich mit immens hoher Belastung. COVID-19 stellt nicht nur das Stammpersonal vor nie dagewesene Herausforderungen, auch „frisches“ Personal wird mit Situationen konfrontiert werden, auf die man sich nur begrenzt vorbereiten konnte.
Anmerkung der Redaktion: Seit dem 25.03.2020 gibt es auch eine Empfehlung deutscher Fachgesellschaften für die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin.
Die Kriterien für die Aufnahme auf Intensivstationen sind flexibel und können lokal an verschiedene Umstände, wie zum Beispiel die Verfügbarkeit von Ressourcen, die Möglichkeit der Verlegung oder die aktuelle oder erwartete Anzahl der ICU-Aufnahmen angepasst werden. Diese Kriterien sind auf alle Aufnahmen, nicht nur auf jene von COVID-19 Patienten anzuwenden.
Die Verteilung von ICU-Ressourcen ist eine komplexe und schwierige Angelegenheit. Die kurzfristige Erhöhung der ICU-Kapazität, um eine schnell wachsende Zahl von Intensivpatienten aufzunehmen, kann einen adäquaten Standard der Patientenversorgung für jeden aufgenommenen Patienten nicht garantieren. Vielmehr besteht die Gefahr, dass wertvolle menschliche und technische Ressourcen von den bereits auf der ICU aufgenommenen Patienten entzogen werden und damit einhergehend, die Gesamtmortalität von anderen – nicht direkt von der Epidemie betroffenen Patienten – steigt, die auf das Vorhandensein von Ressourcen wie Operations- oder Intensivkapazität angewiesen sind.
Eventuell muss ein Alterslimit für die Intensivaufnahme von Patienten gesetzt werden. Das zugrundeliegende Prinzip einer solchen Entscheidung wäre, die begrenzten Ressourcen für jene Patienten zu verwenden, die eine größere Überlebenswahrscheinlichkeit und höhere Lebenserwartung haben. Dies dient dazu, die maximalen Vorteile für die größte Anzahl an Patienten herauszuholen. In einem Szenario von kompletter ICU-Belegung würde die Beibehaltung des First-come-first-served-Prinzips dazu führen, dass die ICU-Versorgung allen folgenden Patienten vorenthalten würde.
Zusammen mit dem Alter sind Vorerkrankungen und funktioneller Status eines jeden kritisch kranken Patienten unter diesen außergewöhnlichen Umständen genau zu evaluieren. Gerade bei älteren gebrechlichen Patienten ist ein längerer – und damit ressourcenintensiverer – klinischer Verlauf mit schweren Co-Morbiditäten zu erwarten, dies im Gegensatz zu weitgehend gutartigen kürzeren Verläufen bei jungen gesunden Patienten.
Das Vorhandensein von Dokumenten für die Versorgungsplanung (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht) sollte evaluiert werden, besonders bei Patienten, die von einer schweren chronischen Krankheit betroffen sind. Diese Dokumente sollten zwischen Behandlern, Patienten und deren Angehörigen besprochen werden.
Eine Entscheidung, die Aufnahme auf die ICU zu verweigern, sollte immer begründet, dokumentiert und kommuniziert werden. Die Entscheidung, keine invasive Beatmung vorzunehmen, bedeutet nicht notwendigerweise, dass weniger invasive Therapieformen (wie NIV oder HFNC) ebenfalls nicht angewendet werden sollten.
Unter außergewöhnlichen Umständen, wenn die Verfügbarkeit von Ressourcen vom Bedarf überrannt wird, kann die Entscheidung, den Zugang zu einer oderer mehrere Formen von Organersatz zu verweigern, durch das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit gerechtfertigt sein.
Ein wichtiger Punkt bei ethischen Entscheidungen ist, dass sie sehr individuell an die konkreten Voraussetzungen angepasst werden sollten. Deswegen muss der Versuch einer Checkliste fast misslingen, ich will mich aber trotzdem bemühen, einige kurze Punkte aufzuzählen, die bei der Planung im eigenen Krankenhaus hilfreich sein können, denn eines ist klar: Ein Aufschieben solcher Gedanken oder die bewusste Entscheidung, Fall für Fall zu entscheiden, wird nicht gut enden.
Im Interesse aller Beteiligten ist es jetzt, wo noch keine Überlastung eingetreten ist, sinnvoll, solche Überlegungen anzustellen und zumindest grobe Rahmenbedingungen für das eigene Haus/die eigene ICU festzulegen. Welche Überlegungen sind wichtig?
COVID-19 ist mit Sicherheit eine der größten Herausforderungen für unser modernes Gesundheitssystem. Neben den fachlich-medizinischen stellen sich uns auch viele ethische und psychologische Herausforderungen. In Extremsituationen zeigt sich außerdem der hohe Wert einer funktionierenden Kommunikation im Team. Zuletzt ist auch auf die hohe psychische Belastung auf Seiten des Personals hinzuweisen, zur Reduktion dieser Belastungen ist dringend anzuraten, einen Teil der knappen Ressourcen für Gesprächsrunden und Burnout-Prophylaxe zu reservieren. Im Gesundheitswesen herrscht schon jetzt Personalmangel und Überlastung, auf lange Sicht wird sich eine solche Investition also mit Sicherheit lohnen.
Post scriptum: Grundprinzipien der Medizinethik
Bewusst am Ende und nicht zu Beginn dieses Beitrages möchte ich sehr oberflächlich auf Grundprinzipien der Medizinethik eingehen. Eine umfassende Erklärung ist kaum möglich, ich will allerdings Input und Anreiz zum selbstständigen Nachlesen geben.
Es gibt ein paar wichtige Grundsätze, die man verstanden haben sollte, um ethisch fundierte Entscheidungen zu treffen. Der erste Punkt ist das Wissen um die Grundsätze der modernen Medizinethik, man unterscheidet vier Säulen, die alle Überlegungen wie ein Fundament tragen:
Die Ethik reicht bis in die Antike zurück und füllt ganze Bibliotheken, diese vier Prinzipien stellen im modernen Diskurs letztlich den gemeinsamen Nenner dar, sind am weitesten verbreitet und quasi universell akzeptiert.
Das Prinzip der Autonomie behandelt die Selbstbestimmung des Patienten, er muss über Behandlungen aufgeklärt werden und darf nur behandelt werden, wenn er zustimmt. Ein Gegensatz dazu wäre ein streng paternalistisches Modell.
Beim Nicht-Schadens-Prinzip geht es darum, dass ärztliches Handeln kein objektives (Verletzung, Missachtung von Interessen) oder subjektives (Schmerz, sittlicher Schaden) Leid zufügen soll. Wohltun bedeutet für den Behandler, Gutes zu tun und Übel und Schaden zu verhindern, das ist sehr allgemein ausgedrückt, bedeutet aber letztlich die Hauptmotivation unseres Handelns: Wir wollen Patienten heilen oder ihnen zumindest helfen. Die Gerechtigkeit ist im Kontext der COVID-19-Pandemie der wichtigste Punkt, da man in einem Setting begrenzter Ressourcen nicht um Gerechtigkeitserwägungen herumkommt.
Wie schon erwähnt, lohnt es sich hierzu nachzulesen, zum Beispiel im kostenlos online verfügbaren Ethikmanual des Weltärztebundes.
Wie immer gilt: Der Einzelfall entscheidet. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position des Autors dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von dasFOAM.
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