Seit dem 1. Mai gilt in Schottland ein Mindestpreis für Alkohol. Das soll die Zahl der Todesfälle durch Alkoholkonsum verringern. Suchtexperten hierzulande begrüßen diese Entscheidung und fordern, die Grenzwerte für risikoarmen Alkoholkonsum zu senken.
Seit dem 1. Mai greifen die Behörden in Schottland, der Heimat unzähliger Ales und Whiskys, hart durch. Sie haben ein Gesetz erlassen, das 50 Pence (umgerechnet 57 Cent) pro zehn Milliliter reinem Ethanol in Bier, Wein und Spiritousen als Mindestpreis vorsieht. Damit soll die Zahl an Alkoholtoten verringert werden. Experten können sich vorstellen, in Deutschland ebenfalls einen Mindestpreis einzuführen.
Der Alkoholkonsum in Deutschland sinkt, bleibt aber auf einem hohen Maß. Zu diesem Ergebnis sind Experten der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) in ihrem kürzlich vorgestellten „Jahrbuch Sucht 2018“ gekommen. Sie geben für den Gesamtverbrauch 133,8 Liter pro Kopf an, Stand 2016. Das sind zwar 1,25 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Trotzdem gehen schätzungsweise 40 Milliarden Euro als direkte und indirekte Kosten auf das Konto alkoholischer Getränke. Dem stehen 2,1 Milliarden Euro Branntweinsteuer, 0,7 Milliarden Euro Biersteuer und 0,4 Milliarden Euro für Schaumwein oder ähnliche Erzeugnisse gegenüber. Deutschland zähle damit zu den „Hochkonsumländern“, kommentiert Suchtexperte Kai Kolpatzik vom AOK-Bundesverband. Die vor 14 Jahren eingeführte Steuer auf Alkopops habe gezeigt, „wie wirksam man über gezielte Besteuerung eine positive Lebensstiländerung auf breiter Front“ erzielen könne. Das kann Raphael Gaßmann von der DHS nur bestätigen: „Wer den Alkoholkonsum reduzieren will, muss dafür sorgen, dass die in Deutschland unverhältnismäßig niedrigen Preise für alkoholische Getränke angehoben werden.“ Neben Rauchen, Bewegungsmangel und falscher Ernährung respektive Übergewicht gehört Alkohol damit zu den wichtigsten gesundheitlichen Risikofaktoren.
Die Trinkmenge und -häufigkeit ist laut DHS mit 200 unterschiedlichen Krankheitsbildern assoziiert. Dazu gehören Hypertonien, kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebserkrankungen (vor allem Mammakarzinome) und Leberzirrhosen. Verglichen mit Abstinenzlern steht ein höherer Alkoholkonsum auch mit Veränderungen des Mikrobioms in Verbindung – davon ist nicht nur jenes im Darm betroffen. Forscher haben jetzt gezeigt, dass Alkohol auch zu Schäden im Mikrobiom des Mundes führt. Diese wiederum stehen unter anderem mit Tumoren der Speiseröhre in Verbindung. Jiyoung Ahn, Epidemiologin an der Medizinischen Fakultät der New York University, untersuchte 1.044 Erwachsene zwischen 55 und 87 Jahren. Von ihnen tranken 270 keinen Alkohol, 614 konsumierten mäßig und 160 griffen häufig zur Flasche. Ahn definierte mäßiges Trinken als ein alkoholisches Getränk pro Tag bei Frauen und ein oder zwei Getränke pro Tag bei Männern. Größere Mengen wurden als starkes Trinken bewertet. Dabei bewertete Ahn 0,25 Liter Bier, 0,1 Liter Wein oder 30 Milliliter Schnaps als ein Getränk. Bei Probanden, die größere Mengen Alkohol tranken, traten verstärkt die Bakterien Actinomyces, Leptotrichia, Cardiobacterium und Neisseria auf. Diese erhöhen das Risiko von Kopf-Hals-Karzinomen sowie von Tumoren der Speiseröhre und der Bauchspeicheldrüse, stehen aber auch mit Zahnfleischentzündungen und mit Endokarditiden in Verbindungen. Wünschenswerte Milchsäurebakterien (Lactobacillales) wurden verdrängt. Sie verschlechtern mit ihren Stoffwechselprodukten die Lebensbedingungen pathogener Mikroorganismen. Die Arbeit zeigt eine Assoziation, deren klinische Relevanz noch untersucht werden muss. Sie unterstützt jedoch die These, dass regelmäßiger Alkoholkonsum auch einen Einfluss auf die bakterielle Zusammensetzung und dadurch auf die eigene Gesundheit hat. Klar ist, dass Abstinenz das Risiko an alkoholbedingten Krankheiten zu erkranken, verringert. Doch wo liegt die Obergrenze für risikoarmen Konsum? Eine Frage, die Ärzte weltweit kontrovers diskutieren.
Die Richtlinien für risikoarmen Alkoholkonsum schwanken beträchtlich zwischen verschiedenen Ländern. Oft unterscheiden sich die Empfehlungen auch nach Männern und Frauen. Einige Beispiele:
Quelle: DHS Diese Werte sind schon lange wissenschaftlich umstritten. Jetzt hat sich Angela M. Wood zusammen mit Kollegen eines internationalen Konsortiums auf die Suche nach geeigneten Studien gemacht, um herauszufinden, welche Grenzen es für risikoarmen Konsum gibt.
Die Forscherin fand 83 prospektive Studien aus 19 Ländern mit 599.912 aktuellen Konsumenten ohne kardiovaskuläre Erkrankung. Weitere Einschlusskriterien waren Informationen über ihren Alkoholkonsum, Alter, Geschlecht, Raucherstatus und eine Diabetes-Anamnese. Das Follow-Up musste nach mindestens zwölf Monaten erfolgen. Innerhalb von 5,4 Millionen Personenjahren traten 40.310 Todesfälle und 39.018 kardiovaskuläre Ereignisse auf. Die niedrigste Gesamtmortalität fand Wood beim Konsum von weniger als 100 Gramm Ethanol pro Woche. Das entspricht zwei Maß Bier oder knapp einer 0,75 l-Flasche Weißwein. Wer mehr als 200 g pro Woche trank, verkürzt die eigene Lebenserwartung um ein bis zwei Jahre. Bei mehr als 350 g pro Woche waren es bis zu bis zu fünf Jahre. Pro zusätzlichen 100g Alkohol in der Woche stieg das Risiko für Schlaganfälle (14 Prozent), koronare Herzerkrankungen ohne Herzinfarkt (6 Prozent), Herzinsuffizienzen (9 Prozent), Bluthochdruck mit tödlichen Folgen (24 Prozent) und tödliche Aortenaneurysmen (15 Prozent). Entgegen ursprünglichen Vermutungen fanden Wissenschaftler keine nennenswerten Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der alkoholbedingten Sterblichkeit.
Angesichts der Relevanz des Themas habe sich mehrere Experten zu Wort gemeldet und Woods Veröffentlichung kommentiert. „Soweit wir es beurteilen können, sind die statistischen Analysen fundiert durchgeführt worden und die Methodik ist nachvollziehbar beschrieben und überzeugend“, erklärt Dr. Cornelia Lange vom Robert Koch-Institut (RKI). „Im Gegensatz zu anderen Studien wurden nur aktuelle Alkoholkonsumenten einbezogen, nicht frühere Alkoholkonsumenten oder Enthaltsame.“ Damit ließen sich Ergebnisse eindeutig auf Alkoholkonsumenten beziehen. Gleichzeitig warnt die Expertin vor übereiltem Aktionismus. „Auf der Basis einer einzelnen – wenn auch noch so fundierten – Studie sollten nicht unmittelbar Empfehlungen verändert werden.“ Die wesentlichen Outcome-Indikatoren seien bei Wood die Gesamtsterblichkeit und kardiovaskuläre Krankheiten. „Für einzelne andere Krankheiten, zum Beispiel Brustkrebs, sind die Risiken zwischen den Geschlechtern durchaus unterschiedlich“, so Lange weiter. Privatdozent Dr. Hans-Jürgen Rumpf ergänzt: „Diese Studie hat durch ihre Stichprobengröße eine hohe Aussagekraft. Sie belegt erneut, dass Alkoholkonsum in riskanten Mengen zu Erkrankungen und frühzeitigem Versterben führt.“ Er ist leitender Psychologe der Forschungsgruppe „Substanzbezogene und verwandte Störungen: Therapie, Epidemiologie und Prävention“, Universität Lübeck, und ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Anders als Lange sieht er durchaus Handlungsbedarf: „Der Richtwert von 100 Gramm pro Woche sollte dazu führen, die Grenzwerte für Männer neu zu überdenken und nach unten zu korrigieren.“ Allerdings lasse sich daraus nicht ableiten, die Grenzwerte für Frauen heraufzusetzen. „Die vorliegende Veröffentlichung bezieht sich auf das Risiko der erhöhten Sterblichkeit und die Entwicklung von kardiovaskulären Erkrankungen. Aus anderen Studien ist bekannt, dass schon geringe Mengen Alkohol bei Frauen das Risiko erhöhen, an Brustkrebs zu erkranken.“
Bleibt zu klären, wie der Staat regulatorisch eingreifen könnte. Rumpf fordert, die Menge reinen Ethanols in Gramm auf alkoholischen Getränken zu vermerken. Speisekarten in Restaurants hätten ähnliche Angaben zu machen. „Auch die Verfügbarkeit von Alkohol zu senken, wäre eine sinnvolle Maßnahme, was bedeuten würde die Anzahl der Geschäfte, die Alkohol verkaufen dürfen, zu verringern oder die Verkaufszeiten einzuschränken“, ergänzt der Experte. Er befürwortet Preiserhöhungen, um den Gesamtkonsum zu senken. Alkopop-Absatz pro Kopf und Jahr. Quellen: International Wine and Spirit Record (IWSR), London; Bacardi-Martini GmbH, Wien; Wiener Zeitschrift für Suchtforschung 32 / 2009 Kai Kolpatzik ergänzte, Steuern hätten den Konsum von Alkopops stark verringert. Dass der Absatz eingebrochen ist, stimmt ohne Frage. Über die Gründe lässt sich allerdings streiten. „Der Umstand, dass es in Österreich identische Umsatzeinbrüche gab, obwohl dort keine Sondersteuer auf Alkopops eingeführt wurde, wurde von jenen, die die Erfolge der Alkopopsteuer feiern und publizieren wollten, konsequent ignoriert“, schreibt Alfred Uhl. Er ist Koordinator der Bereiche Suchtpräventionsforschung und Suchtpräventionsdokumentation am Anton Proksch-Institut in Österreich. Für die Gesundheitspolitik bleibt, nicht nur über höhere Abgaben nachzudenken, sondern noch stärker aufzuklären.