Die Strategie von Großbritannien zur Eindämmung des Virus wurde von Wissenschaftlern vielfach kritisiert. Jetzt fordern Epidemiologen auch von Deutschland strengere Maßnahmen.
Seit gestern sind auch in Großbritannien landesweit die Schulen geschlossen. Es ist eines der wenigen europäischen Länder, die von der Corona-Krise zwar stark betroffen sind, aber lange Zeit keine rigorosen Maßnahmen zur Eindämmung getroffen haben. Die Strategie ist, dem Virus freien Lauf zu lassen, damit sich so viele Menschen wie möglich infizieren.
Das klingt auf den ersten Blick auch einleuchtend: Sobald die breite Masse der Bevölkerung mit dem Virus infiziert ist, stoppt die Ausbreitung von allein. Das ist das Prinzip der Herdenimmunität. Im Fall von SARS-CoV-2 müssten etwa 60 Prozent der Menschen infiziert sein, damit sich die Basisreproduktionszahl (R0) des Virus von derzeit geschätzten 2,5 auf 1 verringert. Diese Zahl gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter selbst ansteckt. Ohne präventive Maßnahmen erreicht man dieses Ziel ziemlich schnell – allerdings zu einem hohen Preis. In Deutschland müssten sich demnach knapp 50 Millionen Menschen infizieren und immun werden. Bei einer angenommenen Letalität von 1 % würden 500.000 Menschen an den Folgen der Infektion sterben.
Letzte Woche hatten über 200 britische Wissenschaftler in einem offenen Brief vor den Folgen der Strategie Großbritanniens gewarnt: „Jetzt die Strategie der Herdenimmunität zu verfolgen, scheint nicht richtig zu sein, da es den NHS [National Health Service] nur noch größerem Druck aussetzt, sodass nur noch mehr Menschen ihr Leben lassen müssen.“ Die Experten machen darauf aufmerksam, dass es zu ähnlichen Situationen wie in Italien kommen könnte.
Dort starben bislang die meisten Menschen weltweit an den Folgen der Infektion (3.400 Tote, Stand 20.03.). Bevor die Städte der besonders betroffenen Region Lombardei in Italien abgeriegelt wurden, breitete sich das Virus vermutlich schon unbemerkt aus. Schließlich zeigt die Großzahl der Infizierten nur milde oder sogar gar keine Symptome. Zwangsläufig stecken diejenigen auch Menschen aus Risikogruppen an. Diese waren es, die plötzlich in den Kliniken der Lombardei landeten und das Gesundheitssystem in dieser Region völlig überlasteten.
Das bedeutet aber nicht, dass nur eine vollständige Isolation hilfreich im Kampf gegen das Virus ist. Südkorea hat es geschafft, die Ausbreitung ohne rigorose Maßnahmen einzudämmen. Hier breitete sich das Virus zunächst ähnlich aus wie in Italien, doch sterben aktuell in Südkorea nur etwa 1 Prozent der Infizierten statt 8 Prozent in Italien. Das hat wohl auch mit der Bevölkerungsstrukur (Italien hat einen hohen Altersdurchschnitt) und der breiten Testung der südkoreanischen Bevölkerung zu tun, wir berichteten. In Südkorea konnte man durch frühe Tests bereits viele Infizierte ausmachen und in Quarantäne schicken.
Isolation und Herdenimmunität sind keineswegs Strategien, die einander ausschließen. Herdenimmunität muss aufgebaut werden, damit das Virus langfristig in den Griff zu bekommen ist. Mit „Social Distancing“ und Quarantäne von Betroffenen wird das auch gelingen – aber über einen längeren Zeitraum. Diese Strategie der Verlangsamung fährt Deutschland derzeit und will damit solche drastischen Situationen wie in Italien verhindern. Noch allerdings gibt es keine landesweiten Ausgangssperren wie im Nachbarland.
Deutschen Epidemiologen geht diese Verlangsamung inzwischen nicht mehr weit genug. Sie fordern in einer aktuellen Stellungnahme strengere Maßnahmen: „Aktuell liegt ein kurzes Zeitfenster vor, in dem die Entscheidung zwischen Eindämmung und Verlangsamung der Infektionsausbreitung noch ohne Überlastung des Gesundheitssystems erfolgen kann.“ Jetzt gehe es laut der Wissenschaftler darum „in der gesamten Bevölkerung eine Einschränkung der sozialen Kontakte auf das Notwendigste zu erreichen“.
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