KOMMENTAR | Dass es SARS-CoV-2 so leicht hat, sich auszubreiten, hat viele Gründe. Einer davon sind wir selbst.
Jeder bekommt derzeit auf irgendeine Weise mit, wie angespannt die Menschen sich aufgrund des Coronavirus verhalten. In den sozialen Medien berichten viele von Einkaufenden, die auf dem Supermarktparkplatz versuchen, noch die zwanzigste Packung Klopapier in den Kofferraum zu stopfen. Ich selbst habe kürzlich beim Einkaufen erlebt, wie ein Paar in der Schlange vor mir 50 Packungen Spaghetti und 25 Packungen Salz auf das Fließband gelegt hat. Auf Twitter wird gerade ein Video geteilt, in dem sich Menschen um eine Packung Klopapier streiten und die Auseinandersetzung für einen kurzen Moment völlig zu eskalieren droht.
Alleine die Tatsache, dass die Menschen im Supermarkt einander so nahe kommen, ist aus medizinischer Sicht nicht optimal. Es wird sich kaum vermeiden lassen, dass SARS-CoV-2 beim Einkaufen übertragen wird. In Italien haben viele Läden deshalb mittlerweile Türsteher, die nur eine kleine Anzahl an Einkäufern gleichzeit hineinlassen, um den empfohlenen Abstand zwischen Personen zu ermöglichen.
Trotz allem muss man realistisch bleiben. Einkaufen gehen muss man eben. Kaffee trinken gehen allerdings nicht. Gemacht haben es am Wochenende trotzdem genug, wie ich auf meinem Heimweg im Vorbeigehen sah. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es sich zum Teil um die gleichen Personen handelt, die noch zwei Stunden zuvor aus Angst vor dem Coronavirus eine Jahresration Nudeln besorgt haben.
Auf der einen Seite nimmt man also eine gewisse Hysterie wahr, die sich unter anderem in Hamsterkäufen und Klopapierstreits äußert. Auf der anderen Seite erleben wir eine faszinierende Inkonsequenz, was das tägliche Leben angeht. Das Wissen über die Risiken scheint vielerorts schon auszureichen. So sitzen gestern die Talkgäste bei Anne Will im Kreis und als es darum geht, dass sie alle den vorgesehenen Personenabstand von 2 Metern gar nicht einhielten, wird lächelnd darüber hinweg moderiert. In einem Bento-Artikel erzählen Menschen von ihren Lokalbesuchen, auf die sie weiterhin nicht verzichten möchten. Man wasche sich ja die Hände und halte Abstand.
Der Mensch ist manchmal seltsam und genau das macht ihn aus. Paradoxerweise ist es möglich, gleichzeitig besorgt und informiert zu sein und dennoch nur jene Regeln wahrzunehmen, die man tatsächlich bereit ist, zu befolgen. Andere Schutzmaßnahmen, die das eigene Leben zu sehr einschränken oder belasten, werden mehr oder weniger bewusst ignoriert.
Die Unruhe, die aufgrund der Ausbreitung von SARS-CoV-2 zu spüren ist, lässt die häusliche Isolation noch dramatischer erscheinen, als sie (bisher) ist. Im Fernsehen kündigt die Moderatorin einen Bericht an, in dem es um den Alltag in Spanien gehen soll, seit der Notstand und die Ausgangssperre verkündet wurden. Diese zweiwöchige Maßnahme trat Samstag um Mitternacht in Kraft. Bei einem Tag kann man wohl kaum von Alltag reden. In etwa einer Woche wäre ein solcher Beitrag angebrachter.
Nicht, dass wir uns hier falsch verstehen: Es macht keinen Spaß, sich in häusliche Isolation begeben zu müssen. Das Leben ist eingeschränkt und auf engem Raum zuweilen auch anstrengend. Doch zur mentalen Belastung wird das wohl erst nach einiger Zeit werden. So mancher von uns war aufgrund einer Erkältung oder eines gebrochenen Fußes schon mal dazu gezwungen, eine Woche zuhause zu bleiben. Jetzt gilt diese Maßnahme eine gewisse Zeit lang kollektiv und der Grund dafür betrifft uns alle. Es ist machbar.
Hinzu kommt noch das vielerorts vorherrschende Missverständnis, man dürfe nun gar nicht mehr die eigenen vier Wände verlassen, außer die Arbeit, ein Arztbesuch oder Essensbeschaffung mache dies erforderlich. „Aus Sicht der Epidemiologie gibt es dafür, dass man nicht mehr raus darf an die frische Luft, kein Argument“, sagt Virologe Alexander S. Kekulé in der gestrigen Talkrunde bei Anne Will nochmals ausdrücklich. Im Freien ist die Ansteckungsgefahr deutlich niedriger als in geschlossenen Räumen. Anne Will möchte daraufhin wissen, wie man sich die Situation vorzustellen habe – etwa zwei Meter Abstand halten, wenn einem jemand entgegen komme? Genau das, bestätigt der Virologe. Man darf also weiterhin den Hund rausbringen oder im Park frische Luft holen – solange man sich dafür nicht mit Freunden verabredet.
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