Etwa vier Millionen Deutsche entwickeln bei verstärktem Alkoholkonsum eine Abhängigkeit. Dabei kontrolliert eine Nervenzellen-Gruppe im präfrontalen Kortex die alkoholbedingten Impulshandlungen. Ein Funktionsausfall dieser Region kann die Gefahr eines Rückfalls bei Alkoholkranken erhöhen.
Wie entsteht dieser Kontrollverlust über den eigenen Alkoholkonsum? Genaues ist bisher nur wenig bekannt. Sicher ist jedoch, dass dieser Verlust seine Ursache im präfrontalen Kortex hat. Dieser Bereich beeinflusst als exekutives Zentrum einen Großteil des Alltagsverhaltens, unter anderem über die Steuerung von Aufmerksamkeit und die Kontrolle von Motivationen und Emotionen. Simone Pfarr, Doktorandin in der Arbeitsgruppe Molekulare Psychopharmakologie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, konnte nun durch Versuche im präfrontalem Kortex von Ratten eine kleine Gruppe von besonderen Nervenzellen, die „Achtsamkeitszellen“ identifizieren, deren Aufgabe es ist, bestimmte unbewusste Gewohnheiten zu unterbrechen. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) gelang es ihr, genau diese Neuronen in lebenden Tieren auszuschalten. Wenn die Ratten nun in eine Umgebung kamen, in der sie gewohnt waren, Alkohol zu erhalten, dann löste das ohne die „Achtsamkeitszellen“ ein verstärktes Verlangen nach Alkohol aus.
Das Experiment verdeutlicht, dass beim Abrufen eines Gedächtnisinhaltes, hier die Erinnerung der Ratte an die Verbindung spezifischer Reize (Geruch, Licht, Umgebung) mit der Verfügbarkeit von Alkohol, bestimmte Neuronen aktiv werden, von denen einige die Aufgabe haben, aktiv eine Reizantwort zu unterdrücken. Dadurch wird es möglich, eine Situation zuerst bewusst wahrzunehmen und eventuell zu bewerten, bevor dann eine bestimmte Handlung ausgeführt wird, beispielsweise das unachtsame oder gewohnheitsmäßige Trinken von Alkohol. Um diese komplexe Aufgabe zu erfüllen, schließen sich bestimmte Nervenzellen in kleinen Gruppen, sogenannte „funktionalen Ensembles“ zusammen. Insbesondere bei höheren Hirnfunktionen, wie Kognition oder Verhaltenssteuerung, scheint diese spezielle Form der Arbeitsorganisation im Gehirn eine wichtige Rolle zu spielen.
Die Arbeitsgruppe unter der Leitung von PD Wolfgang Sommer konnte nun mit den jüngsten veröffentlichten Experimenten nachweisen, dass es auch ein „funktionales Ensemble“ für die Kontrolle von alkoholbezogenen Impulshandlungen gibt. Das erlaubt jetzt den Forschern, den Prozess der Kontrolle und damit auch die Ursache des Kontrollverlustes gezielt zu untersuchen. Ein erstes wichtiges Ergebnis ist dabei die oben beschriebene Lokalisation des gefundenen Ensembles. Das spezifische Gebiet im präfrontalen Kortex wird von den Neurowissenschaftlern als Area 25 bezeichnet. Diese Struktur wird als Koordinator eines über viele Hirnstrukturen ausgedehnten Netzwerks angesehen. Insbesondere bei der Entwicklung von Depressionen spielt es eine wichtige Rolle. Sommers Team hatte bereits in einer früheren Studie gezeigt, dass Neuronen in der Area 25 besonders empfindlich auf wiederholten starken Alkoholkonsum reagieren. Nicht nur in Ratten zeigen sich früh langfristige Schädigungen in dieser Region, sondern auch bei Alkoholpatienten. Zusammen mit den oben dargestellten Ergebnissen ergibt sich ein erster Erklärungsansatz dafür, dass ein Funktionsausfall in dieser Hirnregion grundlegende Mechanismen der Achtsamkeit beeinträchtigt und damit bei Alkoholkranken die Gefahr eines Rückfalls verstärkt. Diese Befunde unterstreichen zudem die Bedeutung des präfrontalen Kortex beim Entstehen von Abhängigkeitserkrankungen. In der Zukunft könnten durch ein verbessertes Verständnis der Funktionen des präfrontalen Kortex bessere Therapien und dringend benötigte diagnostische Marker für die Früherkennung und Prognose von Alkoholerkrankungen abgeleitet werden. Originalpublikationen: Losing Control: Excessive Alcohol Seeking after Selective Inactivation of Cue-Responsive Neurons in the Infralimbic Cortex Simone Pfarr et al.; Journal of Neuroscience, doi: 10.1523/JNEUROSCI.0684-15.2015; 2015 Rescue of infralimbic mGluR2 deficit restores control over drug-seeking behavior in alcohol dependence Marcus W. Meinhardt et al.; Journal of Neuroscience, doi: 10.1523/JNEUROSCI.4062-12.2013; 2013