In Belgien erlaubt das Gesetz die aktive Sterbehilfe bei Kindern mit unheilbaren und unerträglichen Leiden, in den Niederlanden gilt das für Neugeborene und Jugendliche ab zwölf Jahren. Diese Ausweitung auf alle Altersgruppen hat auch international ein großes Echo ausgelöst.
Vor einigen Monaten hat eine Initiative holländischer Kinderärzte nicht nur in den Niederlanden für Aufregung und lautstarken Protest gesorgt. Sollten Kinder den Wunsch haben, aufgrund ihrer unheilbaren Krankheit mit der Hilfe des Arztes zu sterben, so möge die Erfüllung einer solchen Bitte in Zukunft unabhängig vom Alter legal sein. „Gib mir was, damit es schneller geht mit dem Sterben.“ Immer wieder tauchen solche Wünsche in der pädiatrischen Onkologie und anderen Kinderstationen auf, wenn die unheilbare Krankheit weit fortgeschritten und mit starken Schmerzen verbunden ist. Wenn der akute Schmerz vorbei ist und sich das Kind bei Eltern oder Pflegern geborgen fühlt, so berichten Ärzte und Pfleger, wird dieser Wunsch aber auch schnell wieder unwichtig.
In Kürze will der Bundestag ein neues Gesetz zur Sterbehilfe diskutieren und dann darüber abstimmen. Blickt man auf die Zahlen in Holland, steigt dort die Zahl dieser Fälle von aktiver, legaler Sterbehilfe an: von 2012 bis 2013 um mehr als zehn Prozent. In Belgien hat sich diese Zahl zwischen 2006 und 2012 mehr als verdreifacht. Aus der Sicht des deutschen Gesetzgebers darf der Arzt seinem Patienten helfen, sich selber zu töten, jedoch nicht selber Hand anlegen, um den Weg vom Leben zum Tod einzuleiten.
Schon seit dem Jahr 2002 gibt es die straffreie Sterbehilfe für Kinder im Alter zwischen 12 und 18 in den Niederlanden. Allerdings sind die Voraussetzungen dafür ziemlich streng: Der Arzt hat den Jugendlichen über seinen aussichtslosen Zustand informiert und ist zu dem Schluss gekommen, dass es bei einem unerträglichen Leiden keine „andere angemessene Lösung“ gibt. Dieses Urteil muss von einem unabhängigen zweiten Mediziner bestätigt werden. Die Entscheidung für das todbringende Mittel hat der Heranwachsende freiwillig und nach reiflicher Überlegung gefällt. Bis zum Alter von 16 ist das Einverständnis der Eltern erforderlich, danach müssen sie zumindest in die Entscheidung einbezogen werden. Auch für Neugeborene mit ähnlich aussichtsloser Prognose erlaubt das Gesetz nach den Richtlinien der „Groninger Protokolls“ die Euthanasie – in genau überwachten und gut dokumentierten Fällen. Belgien ist bei der aktiven Sterbehilfe für Minderjährige sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hat mit dem im letzten Jahr verabschiedeten Gesetz sämtliche Altersbeschränkungen dafür aufgehoben. Auch hier müssen die betroffenen Kinder einer Kommission glaubhaft machen, dass ihr Zustand unerträglich schmerzhaft und hoffnungslos ist. Gerade bei jungen Kindern gilt dabei: Sie können die Tragweite ihrer Entscheidung klar erkennen.
Diese Ausweitung der Sterbehilfe auf alle Altersgruppen hat auch international ein großes Echo ausgelöst. Viele Beiträge, auch in Fachmedien, schreiben dabei von einer „sorgenvollen Entwicklung“. Minderjährige könnten noch nicht das ganze Ausmaß einer solchen Entscheidung und die Konsequenzen erfassen. Hauptargument der Befürworter: Oberstes Gebot ärztlichen Handelns müsse die Selbstbestimmung des Patienten sein – auch für Minderjährige. Weder Eltern noch Arzt sollten über das Schicksal des jungen Lebens in die eine oder andere Richtung bestimmen können. Mehr als zwei Drittel der belgischen Kinderärzte stehen hinter der Regelung; in einem Land, das eines der weltweit liberalsten Gesetze bezüglich der aktiven Sterbehilfe hat. Etliche, auch belgische, Ärzte sind der Meinung, mit dem Zulassen der aktiven Sterbehilfe hätte die moderne Palliativmedizin keine Chance mehr, dem Wunsch nach einem schnellen Tod zuvorzukommen.
Noch nie in seinem Leben als Arzt habe er eine Situation erlebt, in der er sich die legale Möglichkeit einer aktiven Sterbehilfe wünschte, sagt Boris Zernikow, Leiter der einzigen deutschen Kinderpalliativzentrums in Datteln. „Das ist mit meinem Bild des Arzt-Seins nicht vereinbar, dass ich einen Menschen aktiv töte.“ Kinderonkologen und Kinderpalliativmediziner wie Monika Führer aus München bestätigen Zernikows Blickwinkel und berichten, dass ihnen kaum einmal ein Kind begegnet sei, das dauerhaft danach verlangt hätte, getötet zu werden. Auch Eltern äußerten hin und wieder den Wunsch, dass dem Leiden ihres Kindes schnell ein Ende gemacht werde. Zernikow hält dagegen, wie es denn den Eltern in Zukunft ginge, wenn sie vom Arzt verlangt hätten, ihr Kind zu töten. Kinder in solchen Situationen hätten ein gutes Gespür, in welchem Zustand sie seien und wie es ihren Eltern dabei ginge. Er habe es oft genug erlebt, dass der Tod genau dann eintrat, wenn etwa die verzweifelte Mutter gerade einmal kurz aus dem Zimmer gegangen wäre und so das Ableben nicht ansehen müsse. Zuweilen äußerten Kinder auch den Wunsch, in der Klinik zu bleiben, weil sie genau spürten, dass die Belastung für die Eltern zu Hause noch weitaus größer wäre. Bestimmte Umstände im Leben der Kinder können aber auch einmal eine Entscheidung für Tod oder das vermeintlich qualvolle Leben umwerfen. Das zeigt der Fall von Hannah Jones aus England. Hannah hatte Leukämie und entschied sich mit 14 gegen die lebensrettende Herztransplantation, die das von der Chemotherapie geschwächte Organ ersetzen sollte. Eine Entscheidung, die sie mit vollem Wissen um das baldige Ende ihres Lebens und mit Zustimmung ihrer Eltern fällte. Eine Krise ein Jahr später brachte sie jedoch dazu, ihren Beschluss zu ändern. Mit einem neuen Herzen führt sie nun fünf Jahre später ein fast normales Leben.
Moderne Palliativmedizin bedeutet aber nicht eine Verlängerung des Sterbeprozesses. So gehört die palliative Sedierung zum Werkzeugkasten der Ärzte. Der Tod wird dabei billigend in Kauf genommen. „Nicht alles einsetzen, um das Leben zu verlängern, aber nicht selber den Tod herbeiführen“ lautet die Devise auch in der pädiatrischen Palliativmedizin. „Unerträgliche Schmerzen“ gäbe es in ihrem Bereich nicht, so ihre Antwort auf die provozierende Frage: „Wollen sie schreckliche Schmerzen oder aktive Sterbehilfe?“ Allerdings, so berichtet der Kinderneurologe Bernard Dan aus Brüssel und Mitgestalter der belgischen Regelung, wären nicht alle Jugendlichen und Kinder bereit, eine solche Bewusstseinstrübung als Preis für den gelinderten Schmerz hinzunehmen. Auch etliche Kinder und Jugendliche, so Dan weiter, würden die Euthanasie dem Verlust an klarem Denkvermögen und der Persönlichkeit vorziehen. Dabei sei Belgien genauso wie Deutschland ein palliativmedizinisches Entwicklungsland – zumindest im pädiatrischen Bereich, urteilt Palliativmediziner Seven Gottschling vom Uniklinikum in Homburg/Saar. Nur etwa 10 bis 20 Prozent der Kinder, die eine Palliativversorgung bräuchten, hätten in Deutschland den Zugang dazu. Aktueller Stand: Acht Betten in Deutschlands einzigem Kinderpalliativzentrum. Dazu kommen 13 Hospize für Kinder, die dort zwar Pflege, aber keine durchgehende ärztliche Betreuung für sich und ihre Eltern in Krisen bekommen.
In den letzten zehn Jahren gab es nach Angaben von Judith Rietjens [Paywall] aus Rotterdam in den Niederlanden vier Sterbehilfefälle von Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 17, dazu einen bei einem 12-jährigen Kind. Meist, so schreibt Rietjens, beträfen die Fälle aktiver und passiver Sterbehilfe Kinder mit einer Lebenserwartung von mehr als einer Woche. Die dortigen Leitlinien empfehlen für solche Fälle keine palliativmedizinische Behandlung. Denn die Sedierung könne zusammen mit Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme die verbleibende Lebenszeit ebenfalls verkürzen. Damit wären Sterbehilfe und Palliativmedizin in ihren Konsequenzen gar nicht soweit auseinander. Mag der medizinische Aspekt nicht explizit gegen die aktive Sterbehilfe bei Kindern sprechen – wie es ist, das Leben eines minderjährigen Kindes durch eigenes Handeln zu beenden, bliebe in Deutschland auch bei liberalen Gesetzen wie bei unseren Nachbarn eine ethische Frage. Eine Frage, die Ärzte und Eltern für sich selbst beantworten müssen.