Wir essen regelmäßig hochverarbeitete Produkte wie Tütensuppen, Kaugummis oder Müsliriegel. Solche Lebensmittel sollen unabhängig von ihrem Zucker- oder Fettgehalt das Risiko für Tumorerkrankungen wie Brustkrebs erhöhen, sagen die Autoren einer aktuellen Studie.
Fertiggerichte enthalten meist verschiedene Zusatzstoffe sowie ungesunde Mengen an Fett, Zucker oder Salz – aber sind sie auch bewiesenermaßen krebserregend? Diese Frage wird bisher kontrovers diskutiert. Ein Forscherteam aus Frankreich hat nun erstmals den Zusammenhang zwischen der Ernährung mit hochverarbeiteten Lebensmitteln und dem Risiko für verschiedene Krebsarten in einer umfangreichen Studie untersucht.
Die Wissenschaftler um Bernard Srour und Mathilde Touvier vom Center of Research in Epidemiology and Statistics (CRESS) an der Sorbonne-Universität in Paris werteten die Daten von 10.980 Probanden aus einer französischen Ernährungsstudie aus. Die Studienteilnehmer waren im Durchschnitt 43 Jahre alt, 22 Prozent von ihnen waren Männer und 78 Prozent Frauen. Die Probanden hatten von 2009 bis 2017 zwei Mal pro Jahr Ernährungsprotokolle ausgefüllt. Dabei sollten sie an drei Tagen pro Halbjahr alle Lebensmittel und Getränke angeben, die sie in den letzten 24 Stunden verzehrt hatten. Insgesamt wurden in den Protokollen 3.300 verschiedene Lebensmittel erfasst.
Die Ernährungsforscher analysierten den Zusammenhang zwischen dem Grad der Verarbeitung und dem Risiko für Krebs allgemein sowie für Brustkrebs, Darmkrebs und Prostatakrebs. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, dass der Verzehr hochverarbeiteter Nahrungsmittel mit einem erhöhten Risiko für maligne Tumorerkrankungen zusammenhängt: Bei einer Erhöhung des Anteils hochverarbeiteter Lebensmittel im täglichen Speiseplan um 10 Prozent stieg das allgemeine Krebsrisiko um 12 Prozent, das Brustkrebsrisiko um 11 Prozent. Bei Darmkrebs und Prostatakrebs ließ sich dagegen kein Zusammenhang mit dem Verzehr hochverarbeiteter Nahrung feststellen. Bei weniger stark verarbeiteten Lebensmitteln bestand ebenfalls kein Zusammenhang mit dem Krebsrisiko. Bei nicht oder kaum verarbeiteten Lebensmitteln beobachteten die Forscher dafür ein reduziertes Risiko, an Brustkrebs sowie Krebs allgemein zu erkranken. Die Auswertung der französischen Forscher deutet darauf hin, dass sich die Ergebnisse nicht durch einen hohen Zucker-, Salz- und Fettgehalt der Produkte erklären lassen. Denn die Zusammenhänge bestanden auch dann, wenn dieser Aspekt herausgerechnet wurde. „Das legt nahe, dass andere Bestandteile hochverarbeiteter Lebensmittel zu einem erhöhten Krebsrisiko beitragen könnten“, erläutert Srour. „Das könnten Lebensmittelzusatzstoffe oder Bestandteile der Verpackung sein – oder auch Substanzen, die bei der Verarbeitung entstehen.“ Weiterhin bestanden die Zusammenhänge auch dann, wenn Alter und Geschlecht der Probanden sowie gesundheitliche Risikofaktoren wie Übergewicht, mangelnde körperliche Aktivität, Rauchen, Alkoholkonsum und Krebserkrankungen in der Familie statistisch herausgerechnet wurden. Natürlich lasse sich aus den beobachteten Zusammenhängen nicht schließen, ob hochverarbeitete Lebensmittel tatsächlich die Ursache für Krebserkrankungen seien, betonen die Wissenschaftler. So liefert die Studie zwar erste Hinweise darauf, dass ein Zusammenhang zwischen industriell hergestellten Lebensmitteln und dem Risiko, an Krebszu erkranken, bestehen könnte. Allerdings ist dies noch kein Beleg dafür, dass hoch verarbeitete Lebensmittel die Ursache für Krebserkrankungen sind. Welcher Mechanismus hinter dem beobachteten Zusammenhang steht, ist bisher nicht bekannt. Es könnte also sein, dass andere, bisher unbekannte Gründe zu einem erhöhten Krebsrisiko bei Personen, die mehr stark verarbeitete Lebensmittel konsumiert haben, beigetragen haben. Zudem wurden die Probanden in der Studie nur über einen Zeitraum von etwa sieben Jahren beobachtet – eine zu kurze Zeit, um Langzeitauswirkungen hoch verarbeiteter Lebensmittel zu erfassen. Ein weiterer Schwachpunkt der Studie ist, dass ein wesentlich größerer Teil der Probanden weiblich war (78 %) und damit keineswegs einen Spiegel der Bevölkerung darstellt. Darüber hinaus waren sie im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung besser gebildet und gesundheitsbewusster.
Bei der Verarbeitung von Lebensmitteln ergibt sich erst einmal die Frage: Wie lässt sich der Grad der Verarbeitung genau einschätzen? Srour, Touvier und ihr Team benutzen dazu die so genannte NOVA-Klassifikation. Dabei werden vier Stufen der Verarbeitung festgelegt:
„Lebensmittel aus Gruppe 4 sind keine verarbeiteten frischen Lebensmittel, sondern ‚Rezepturen‘, die ganz oder fast nur aus Lebensmittelextrakten und Zusatzstoffen bestehen – und fast nicht aus intakten Lebensmitteln der Gruppe 1“, beschreiben Carlos Augusto Monteiro und sein Team von der Universität Sao Paulo diese Kategorie der NOVA-Klassifikation.
Zu den möglichen Kandidaten, die zu einem erhöhten Krebsrisiko beitragen könnten, gehören bestimmte Zusatzstoffe in Lebensmitteln: etwa Titanoxid, das Lebensmitteln eine weiße Farbe verleiht oder Natriumnitrit, das beim Pökeln verwendet wird. Des Weiteren Substanzen, die bei der Verarbeitung entstehen: etwa Acrylamid, das sich bei Röstvorgängen und starker Erhitzung, vor allem von Kartoffel- und Getreideprodukten, bildet. Studien haben Hinweise dafür gefunden, dass Titanoxid, Acrylamid sowie Nitrosamine, die beim Erhitzen gepökelter Lebensmittel entstehen, das Risiko für bestimmte Krebsarten erhöhen könnten. „Weitere Untersuchungen deuten darauf hin, dass einige künstliche Süßstoffe die Darmflora verändern und so das Risiko für bestimmte Krebsarten erhöhen könnten“, berichtet Srour. Hierzu sind die Ergebnisse bislang aber uneinheitlich. Auch Bestandteile der Verpackung könnten möglicherweise zu einem erhöhten Krebsrisiko beitragen. So legen Studien nahe, dass Bisphenol A die Entstehung von Krebs begünstigen könnte: Die hormonschädigende Substanz ist in vielen Kunststoffprodukten enthalten, beispielsweise in der Innenbeschichtung von Getränke- und Konservendosen, in Plastikflaschen und in Verbundstoff-Verpackungen wie Getränkekartons. Die European Chemicals Agency (ECHA) stuft diese als „eine Substanz mit hohem Anlass zur Besorgnis“ ein. „Bisphenol A ist eine hormonaktive Substanz, die im Verdacht steht, verschiedene Erkrankungen sowie Krebs zu begünstigen“, sagt Srour. „Es könnte sein, dass es aus der Verpackung in die Nahrung übergeht.“ Lebensmittel, bei denen mehrere dieser Aspekte zusammenkommen, wären zum Beispiel Kaugummis und Kaudragees: Sie enthalten künstliche Süßstoffe, erhalten ihre weiße Farbe mithilfe von Titanoxid und sind mit Material verpackt, das Weichmacher wie Phthalate enthält.
Die Risiken dieser Substanzen werden von Expertenkommissionen, etwa von der WHO, zwar regelmäßig kritisch begutachtet. Oft gibt es bereits vom Gesetzgeber festgelegte Maximalwerte pro Lebensmittel – oder die Erkenntnisse führen zu neuen gesetzlichen Regelungen, wie derzeit in der EU-Verordnung für Acrylamid. „Allerdings ist bisher unbekannt, welche Auswirkungen die langfristige Aufnahme einer Reihe dieser Substanzen hat, wie sie in hoch verarbeiteten Lebensmitteln vorkommen", sagt Srour. Um die aktuellen Ergebnisse zu überprüfen und nachzuweisen, ob hochverarbeitete Lebensmittel tatsächlich das Krebsrisiko erhöhen, seien in jedem Fall weitere Studien notwendig, betonen die Forscher. „Darüber hinaus brauchen wir Studien, um herauszufinden, welche Aspekte bei der Verarbeitung das Krebsrisiko beeinflussen“, schreiben Srour, Touvier und ihr Team. Die Forscher planen nun eine neue Studie, in der sie den Einfluss von Lebensmittelzusatzstoffen auf verschiedene Erkrankungen untersuchen wollen. „Besorgniserregend ist, dass die Ernährung mit hochverarbeiteten Lebensmitteln in vielen Ländern stark zugenommen hat“, sagt Mathilde Touvier. Eine Untersuchung französischer Krebsforscher bestätigt das: Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der Anteil von industriell verarbeiteten Lebensmitteln, die außer Erhitzen und Kochen keine oder nur eine minimale Zubereitung benötigen (z.B. Brot, Konserven, Kuchen), bei Spaniern etwa 60 % der durschnittlichen Energieaufnahme ausmacht. Für Deutschland und die Niederlande geben die Studienautoren sogar einen Anteil von 78–79 % an.
Verlässlich belegt ist der vermeintliche Zusammenhang allerdings keineswegs. „Das Mehr an Krebserkrankungen bei jenen, die die meisten stark verarbeiteten Lebensmittel konsumiert hatten, muss nicht an der Ernährungsweise liegen,“ steht im Resümee eines Artikels von „Medizin-Transparent.at“. Hinter dieser Webseite steckt das Department für evidenzbasierte Medizin und klinische Epidemiologie der Donau-Universität Krems sowie Cochrane Österreich. Weiter heißt es: Die Forscher hätten in ihrer statistischen Auswertung zwar möglichst viele Faktoren berücksichtigt, die bekanntermaßen mit Krebs in Zusammenhang stehen können, wie Rauchen, Bewegungsmangel und familiäre Vorbelastung, es sei aber denkbar, dass unbekannte oder nicht berücksichtigte Einflüsse (z. B. Armut oder Zugang zum Gesundheitssystem) ausgerechnet bei Personen mit hohem Konsum an Industrie-Nahrung das Krebsrisiko gesteigert hätten – während das verdächtigte Essen unschuldig sei. Trotzdem gebe es aber „erste Hinweise auf einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Konsum von industriell hergestellten, stark verarbeiteten Produkten und Krebs“.