Das Medizinstudium gilt als Inbegriff eines Vollzeitstudiums, kaum eine andere universitäre Ausbildung verlangt Studenten mehr Anwesenheit ab. Ein Angebot der Uni Frankfurt ermöglicht eine individuelle Gestaltung der Arztausbildung und spricht neue Zielgruppen an.
Alles begann 2009 mit einem Modellversuch, der von der Goethe-Universität Frankfurt gemeinsam mit dem Land Hessen ins Leben gerufen wurde. Der Name dieses Versuchs beschreibt bereits sehr gut, worum es bei dieser Initiative geht: „Teilzeitstudium Medizin“. Zwei Wörter, die einem Tabubruch gleichen. Kein Studiengang ist derart verschult und hat eine vergleichbare Menge an Präsenzveranstaltungen wie der rund sechs Jahre lange Weg zu Stethoskop und Skalpell. Humanmedizin gehört mit knapp 90.000 Studierenden im Wintersemester 2014/2015 zu den beliebtesten, aber auch gefürchtetsten Studienfächern. Kaum Freizeit, wenig Möglichkeiten zum Jobben, selbst die Semesterferien sind oftmals voll mit Blockpraktika und Famulaturen. Außer bei dem einen oder anderen Wahlfach ist es – anders als in vielen Bachelor- und Masterstudiengängen – mit der eigenen Gestaltung der Studiums nicht weit her. Fast alles ist „von oben“ durch die Approbationsordnung vorgegeben. Das ist einerseits gut so: Ärzte sollten bei ihrem therapeutischen Wirken auf ein vergleichbares Gesamtspektrum an Wissen zurückgreifen können. Andererseits ist beispielsweise der Weg für „Quereinsteiger“, die bereits einen Beruf ausüben, praktisch verschlossen. Es sei denn, sie geben ihre berufliche Tätigkeit komplett auf. Nicht besser sieht es für Studienwillige mit eigenen Kindern, Profisportler oder Schwerbehinderte aus. Genau für diese Personengruppen wurde in der Mainmetropole ein Modell geschaffen, das ein Medizinstudium in Teilzeit ermöglicht.
Im Frühling 2009 wurde das Modellprojekt von dem damaligen Studiendekan der medizinischen Fakultät, Professor Dr. med. Frank Nürnberger, in Zusammenarbeit mit Studienberater Dr. Winand Dittrich ins Leben gerufen. Grundlage ist dabei eine individuelle Studienberatung bzw. -begleitung, die auf die Bedürfnisse einzelner Studenten der genannten Personengruppen eingeht und sich nach diesen ausrichtet. „Auf dieser Basis wird für jeden ein individueller Studienplan erstellt, bei dem u. a. eine starke Reduktion der wöchentlichen anwesenheitspflichtigen Lehrveranstaltungen greift“, erklärt Diplom-Psychologin Monika Duderstadt, Leiterin der Abteilung für individuelle Studienbegleitung der Universität Frankfurt. Die dadurch in der Regel unvermeidbare zeitliche Streckung der Gesamtstudienzeit stellt dabei kein Hindernis dar. Die Approbationsordnung für Ärzte sieht lediglich Mindestzeiten vor. So darf der 1. Abschnitt der Ärztlichen Prüfung nach frühestens zwei Jahren abgelegt werden. Die Approbation wiederum darf dann erst nach drei Jahren klinischem Studium und dem PJ erteilt werden.
Laut der 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes aus dem Jahr 2012 haben etwa 4 % aller Studenten in der Bundesrepublik ein Kind, rund 7 % weisen eine mehr oder weniger das Studium erschwerende gesundheitliche Beeinträchtigung auf. Die strikte zeitliche Trennung zwischen Berufsausbildung und Familiengründung ist heute nicht mehr in der Art verbreitet, wie es noch vor dreißig Jahren der Fall war. Zwar sind die genannten vier Prozent der Studierenden mit Kind auf den ersten Blick eine kleine Minderheit. Insgesamt lässt sich aber beobachten, dass sich eine zunehmende Zahl an Jungakademikern bereits während der Studienzeit für Nachwuchs entscheidet. Eine Reihe von Universitäten bietet hier bereits entsprechende Angebote, wie Kindertagesstätten o. ä. Die individuelle Studienbegleitung in Frankfurt sucht in diesem Fall gemeinsam mit den jungen Eltern nach Lösungen, das Medizinstudium möglichst familienfreundlich zu gestalten. „Niemand sollte wegen eines Kindes das Studium aufgeben müssen“, so Monika Duderstadt. Zur Zielgruppe der individuellen Studienbegleitung gehören neben jungen Eltern, Schwerbehinderten und Berufstätigen auch Studenten, die mit der Pflege naher Angehöriger betraut sind. Auch Profisportler oder solche Nachwuchsmediziner mit einem besonderen sozialen oder kulturellen Engagement können auf Unterstützung hoffen. In eingehenden Beratungen wird für jeden Studierenden eine individuelle Lösung gefunden. „Das Studium erhält somit einen klaren Aufbau für den einzelnen Studierenden“, heißt es von Seiten der Goethe-Universität.
Neben der zeitlichen Organisation des Studiums unterstützen Frau Duderstadt und ihre Kollegen die Studenten auch in Bezug auf die Lernorganisation und Prüfungsvorbereitung. „Wir erarbeiten spezielle Pläne und Strategien, um trotz der hohen zeitlichen Gesamtbelastung eine optimale Vorbereitung auf die zahlreichen Klausuren und Examina zu gewährleisten“, lässt die Abteilung der Individuellen Studienbegleitung verlautbaren. Auch zu Fragen der Studienfinanzierung erfahren Studierende eine fachlich-kompetente Beratung. So sucht man beispielsweise gemeinsam nach einem geeigneten Nebenjob für die Ärzte in spe. Begleitet wird das Projekt der Individuellen Studienbegleitung seit seinem Start von empirischen Studien. „Wir brauchen aktuelle Kenntnisse über unsere Studierende und Lehrende“, heißt es von Seiten der Universität. „Die gewonnenen Erkenntnisse dienen der weiteren Verbesserung unserer Arbeit.“ Zweifelsohne erhalten Studierende in besonderen Situationen auch an den anderen medizinischen Fakultäten hierzulande eine hervorragende und eingehende Betreuung. Den genannten „Tabubruch“ eines Teilzeitstudiums Humanmedizin sucht man außerhalb der Mainmetropole bislang allerdings vergeblich. Im Gegenteil: Aus Brüssel sind seit geraumer Zeit immer wieder Forderungen nach einer Verkürzung des Medizinstudiums auf fünf Jahre zu hören. Das bedeutet für die Studierenden eine weitere Erhöhung des Zeitaufwandes. Generell werden Teilzeitstudiengänge in anderen Fachbereichen mittlerweile zahlreich angeboten. So wirbt die Humboldt-Universität in Berlin mit den Worten: „Bei allen Studiengängen, die zu einem ersten Abschluss führen (Bachelor, Diplom, Staatsexamen), ist an der HU eine Teilzeitimmatrikulation möglich“. Auf konkrete Nachfrage heißt es allerdings: „Das Medizinstudium an der Charité ist ausschließlich in Vollzeit.“