Viele Frühchen leiden an einer behandlungsbedürftigen Retinopathie. Die bisher zur Verfügung stehenden Therapien sind nicht frei von Risiken. Wissenschaftler suchen deshalb nach Alternativen mit weniger Nebenwirkungen.
Frühgeborene haben häufig unreife Lungen und müssen deshalb künstlich beatmet werden. Die dabei zugeführten hohen Sauerstoffkonzentrationen verbessern ihre Überlebenschancen, bergen aber die Gefahr einer Retinopathie. Bei dieser Augenerkrankung entwickeln sich die noch unreifen Blutgefäße in der Netzhaut nicht normal, sondern wachsen stattdessen auf chaotische Weise immer weiter. Im Endstadium der Krankheit kann sich die Netzhaut ablösen und die Betroffenen erblinden. Grundsätzlich werden in Deutschland alle Neugeborenen, die vor der 32. Woche auf die Welt kommen, auf eine Retinopathie hin untersucht und deren Verlauf kontrolliert. Behandeln müssen Ärzte rund drei bis fünf Prozent der beobachteten Kinder: „Bei diesen Frühchen geht es um alles, damit sie nicht erblinden“, sagt Andreas Stahl, Geschäftsführender Oberarzt an der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums Freiburg. Um das zu verhindern, besteht die Möglichkeit, die avaskuläre Netzhaut der betroffenen Frühchen mit einem Laser zu veröden. Seit einigen Jahren gibt es aber auch eine weniger aufwändige Alternative: Bei dieser Methode spritzen die behandelnden Ärzte einen therapeutischen Antikörper in den Glaskörper des Auges, der den vaskulären Wachstumsfaktor VEGF hemmt. Bevacizumab ist für Erkrankungen außerhalb des Auges zugelassen und findet hauptsächlich Anwendung bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen. In einer im New England Journal of Medicine veröffentlichten Vergleichsstudie mit 150 Frühgeborenen zeigte sich die Behandlung mit Bevacizumab der Lasertherapie signifikant überlegen, wenn die Retinopathie sich noch nicht in die periphere Zone der Netzhaut ausgedehnt hatte. „Das ist möglicherweise ein großer Fortschritt, denn die Lasertherapie führt gerade bei diesen Frühgeborenen, deren Gefäße in unmittelbarer Nähe um die Austrittsstelle des Sehnervs herum von der Krankheit betroffen sind, zu großen Narbenarealen“, sagt Stahl.
Der Freiburger Augenarzt schätzt, dass mittlerweile in Deutschland mehr als ein Viertel aller Frühgeborenen mit einer behandlungsbedürftigen Retinopathie den Antikörper erhalten. Allerdings gibt es noch keine belastbaren Daten über die Langzeitsicherheit der Behandlung von Frühgeborenen mit diesem Medikament. „Bevacizumab ist ein Antikörper und diese werden vom menschlichen Organismus nur langsam abgebaut“, so Stahl. „Es besteht deshalb die Möglichkeit, dass nicht nur das Wachstum von krankhaft veränderten, sondern auch von gesunden Gefäßen gehemmt wird, was aber für den Reifungsprozess von Frühgeborenen nicht erwünscht ist.“ Nun testet Stahl im Rahmen der multizentrischen CARE-ROP-Studie mit 40 Frühgeborenen die Wirksamkeit von Ranibizumab. Dieses Antikörperfragment kommt bereits bei der Therapie der feuchten altersbedingten Makuladegeneration und anderen Augenerkrankungen zum Einsatz. Es bindet ähnlich wie Bevacizumab den Wachstumsfaktor VEGF, wird aber wesentlich schneller abgebaut als dieses. Um zu überprüfen, ob die Behandlung mit Ranibizumab eventuell das Wachstum von gesunden Blutgefäßen beeinträchtigt, werden die Studienteilnehmer über einen Zeitraum von fünf Jahren nachbeobachtet.
Bislang ist VEGF der einzige Angriffspunkt von Medikamenten, mit denen sich der Verlauf der Frühgeborenen-Retinopathie beeinflussen lässt. Nun ist ein Forscherteam des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg auf ein weiteres Molekül gestoßen, das bei der Entwicklung von neuen Blutgefäßen offenbar eine wichtige Rolle spielt. Wie die Wissenschaftler um Andreas Fischer in einem Artikel im Fachmagazin EMBO Molecular Medicine berichten, lässt sich mit Semaphorin 3C (Sema3C) im Tiermodell effektiv das krankhafte Wachstum von Blutgefäßen im Auge hemmen. Sema3C ist ein lösliches Protein und ist auch am Auswachsen der Nervenzellfortsätze beteiligt. Fischer und sein Team kamen Sema3C auf die Schliche, als sie im Rahmen von Zellkulturversuchen untersuchten, welche Moleküle nötig sind, um Blutgefäße auszubilden. „Wenn man Sema3C auf Endothelzellen gibt, die die Innenseite der Blutgefäße auskleiden, wandern die Zellen voneinander weg; erhöht man die Sema3C-Dosis sterben die Zellen sogar ab“, berichtet Fischer, Leiter einer Forschungsgruppe am DKFZ. Das brachte ihn und seine Mitarbeiter auf die Idee, dass Sema3C dabei helfen könnte, das chaotische Wachstum von Blutgefäßen bei der Retinopathie unter Kontrolle zu bringen. Um dieser Vermutung nachzugehen, spritzte Fischers Team drei Tage alten Mäusen das Protein in den Glaskörper. Die Behandlung hatte auf Blutgefäße im Zentrum der Netzhaut, die schon ausgereift waren, keinen Einfluss. Peripher gelegene, noch unreife Blutgefäße gingen dadurch jedoch zugrunde. Bei ausgewachsenen Mäusen blieb die Injektion von Sema3C ohne Auswirkungen auf die dann bereits ausgereiften Blutgefäße der Netzhaut.
In einem weiteren Experiment setzten die Forscher sieben Tage alte Mäuse mehrere Tage lang unter eine Atmosphäre, die 75 Prozent Sauerstoff enthielt. „Damit wollten wir die Verhältnisse ein wenig nachstellen, unter denen die Retinopathie von frühgeborenen Kindern entsteht“, erklärt Fischer. Die so behandelten Mäuse zeigten wie erwartet ein chaotisches Wachstum der Blutgefäße. Als die Tiere aber 15 Tage nach ihrer Geburt Sema3C injiziert bekamen, verschwanden die krankhaft veränderten Blutgefäße in der Netzhaut. Wie die Forscher herausfanden, bindet Sema3C an zwei verschiedene Rezeptoren, die auf der Oberfläche von unreifen Gefäßzellen sitzen, und gibt diesen ein wachstumshemmendes Signal: „Da die beiden Rezeptoren auf reifen Zellen kaum vorhanden sind, hat man so die Möglichkeit, Sema3C genau dorthin zu bringen, wo dessen Wirkung benötigt wird“, sagt Fischer. Da sich Ergebnisse aus Tierversuchen normalerweise nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen lassen, rät der Heidelberger Forscher aber zur Vorsicht und weiteren Experimenten, ehe Sema3C bei Patienten mit einer Frühgeborenen-Retinopathie getestet werden könnte: „Noch wissen wir nicht, ob zusätzlich injiziertes Sema3C einen negativen Einfluss auf das Nervensystem hat.“ Aus diesem Grund ist bei Fischer und seinem Team weitere Grundlagenforschung angesagt: Derzeit vergleichen die Forscher Sema3C mit den VEGF-Hemmern. Erste Ergebnisse deuten daraufhin, dass Sema3C krankhaft veränderte Blutgefäße bei Mäusen mit einer Retinopathie schneller und besser regenerieren lässt.
Andreas Stahl sieht ebenfalls keinen unmittelbaren Handlungsbedarf: „Mit den bisherigen Therapieoptionen lässt sich die Frühgeborenen-Retinopathie erfolgreich behandeln.“ Deswegen, so Stahl, habe er Bedenken, gleich den nächsten Angriffspunkt bei dieser Krankheit ins Visier zu nehmen. Denn noch sei nicht klar, ob zusätzliches Sema3C nur das pathologische Wachstum von Blutgefäßen stoppe oder ob es vielleicht zusätzlich auch die normale physiologische Entwicklung von Blutgefäßen negativ beeinflusse. Weniger Sorgen würde dem Augenarzt dagegen der Einsatz von Sema3C bei der Behandlung der feuchten altersbedingten Makuladegeneration bereiten. „Bei erwachsenen Menschen sind die Blutgefäße ausgereift und man sollte mit weniger Nebenwirkungen rechnen“, sagt Stahl. „Auch gibt es bei dieser bei älteren Menschen weit verbreiteten Krankheit einen Bedarf an neuen Medikamenten, denn nur 80 bis 90 Prozent der Betroffenen sprechen mit gutem Erfolg auf die Behandlung mit VEGF-Hemmern an.“