Viele Menschen glauben, eine normale Ernährung reiche nicht aus, um den Körper mit allen lebenswichtigen Nährstoffen zu versorgen. Einer Studie zufolge führen Nahrungsergänzungsmittel aber zu einer Vielzahl von Notfallbehandlungen und Hospitalisierungen.
Für die im New England Journal of Medicine veröffentlichte Studie [Paywall] ließen die Wissenschaftler des Centers of Disease Control and Prevention (CDC) und der Food and Drug Administration (FDA) die Krankenakten von 63 US-amerikanischen Krankenhäusern aus dem Zeitraum 2004–2013 von speziell geschulten Abstraktoren sichten. Diese identifizierten 3.667 Fälle, in denen Besuche in der Notaufnahme direkt im Zusammenhang mit Nahrungsergänzungsmitteln standen. Hochgerechnet auf alle Krankenhäuser im Land entspricht dies jährlich 23.005 Notfallbehandlungen und 2.154 Hospitalisierungen. Ein Fünftel der Notfälle betraf Kinder, die unbeaufsichtigt Supplemente wie Multivitamine, Diätmittel, Schlafmittel oder Anxiolytika zu sich genommen hatten. Und auch sonst scheint das Problem eher Jüngere zu betreffen: Die meisten Notfälle betrafen Personen im Alter zwischen 20 und 34 Jahren. Bei diesen waren insbesondere Diät- und Energiemittel für die Notfallbehandlungen verantwortlich, da diese Substanzen zu kardialen Symptomen wie Palpitationen, Brustschmerzen und Tachykardie führten. Auch zeigten sich in der Analyse geschlechtsspezifische Unterschiede: Bei den Frauen machten fast doppelt so häufig wie bei den Männern Diätmittel den Weg in die Notaufnahme notwendig (30,4 % vs. 17,6 %), während Potenz- oder Bodybuilding-Produkte fast ausschließlich bei den Männern zu Notfällen führten (14,1 % aller männlichen Notaufnahme-Patienten). Im Gegensatz dazu fand sich die höchste Rate der Hospitalisierungen bei den Personen über 65 Jahren. Bei diesen waren häufig Kalziumpräparate und Mittel zur Steigerung der kardiovaskulären Gesundheit für den Besuch in der Notaufnahme verantwortlich. Die Hauptursachen der Notfallbehandlung waren bei dieser Patientengruppe Verschlucken und durch Tabletten verursachte Dysphagie oder Globusgefühl.
Die nun veröffentlichte Studie stammt zwar aus den USA, doch auch in Deutschland erfreuen sich Nahrungsergänzungsmittel ungebrochener Beliebtheit. Im Rahmen der Nationalen Verzehrsstudie (NVS) II gaben 27,6 % der befragten Deutschen an, Supplemente zu nehmen – die Mehrheit der Nutzer ist weiblich (60,2 %). Bei den Älteren [Paywall] sind es sogar deutlich mehr: Mehr als jede zweite Frau und jeder dritte Mann über 64 Jahre nimmt ergänzend Vitamine, Mineralstoffe oder sonstige Zusatzstoffe. Kein Wunder also, dass sich mit den Mittelchen viel Geld verdienen lässt: 2014 belief sich der Gesamtumsatz für Nahrungsergänzungsmittel auf 970 Millionen Euro, und sowohl die Anzahl der verkauften Packungen als auch der Umsatz stiegen im Vergleich zum Vorjahr um mehrere Prozent. Die Bestseller sind hierzulande Magnesiumpräparate, Multivitamine mit Mineralstoffen für Schwangere, Vitamin B-Kombinationen und Kalziumpräparate. Dieser Trend führt dazu, dass die Menschen zunehmend Gefahr laufen, überversorgt zu werden: Beispielsweise hat die NVS II ergeben, dass in der Allgemeinbevölkerung durch Supplemente die Referenzwerte für Vitamin B1, B2, B6 und Niacin überschritten werden. Bei den über 64-Jährigen [Paywall] überschreiten 20 % der Frauen und 33 % der Männer die empfohlene Maximalmenge für Magnesium, und 14 % nehmen zu viel Vitamin E.
Dass viel nicht immer viel hilft, sondern unter Umständen durchaus auch Schaden kann, belegen zahlreiche Studien. Eine Überversorgung mit Vitamin E erhöht beispielsweise bei Männern das Risiko für Prostatakrebs. Niacin in hohen Dosierungen führt häufig zu Hautrötungen, Hitzegefühl, Pruritus und Urtikaria, es kann aber auch zu gastrointestinalen Beschwerden wie Diarrhö, Übelkeit und Erbrechen kommen. Im schlimmsten Fall treten Hepatitis und Leberschäden auf. Eisen wird gerne bei Müdigkeit und Erschöpfung eingesetzt, doch eine Überladung mit Eisen steht im Verdacht, das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs und Diabetes zu erhöhen. Außerdem könnte Eisen eine kausale Rolle bei der Entstehung neurodegenerativer Erkrankungen wie Morbus Alzheimer und Parkinson spielen. Und die Antioxidantien Beta-Karotin, Vitamin A und Vitamin E – vielfach als Wunderwaffe gegen das Altern angepriesen – stehen im Verdacht, bei chronischer Einnahme das Mortalitätsrisiko zu erhöhen.
Doch nicht nur die angegebenen Inhaltsstoffe können Nahrungsergänzungsmittel zu einem Gesundheitsrisiko machen. Immer wieder tauchen Berichte über Verunreinigungen und verbotene Zusätze auf: Egal, ob Sibutramin oder Amphetamine in Schlankheitsmitteln, anabole Steroide in Fitnessprodukten oder Sildenafil in angeblich natürlichen Kräuterextrakten zur Potenzsteigerung [Paywall] – es wird gepanscht und getäuscht, was das Zeug hält. Dabei sind nicht nur Produkte aus Fernost betroffen: Einer 2014 veröffentlichten US-amerikanischen Studie zufolge stammten 74 % der positiv getesteten Produkte von einheimischen Herstellern. Kein Wunder also, dass die FDA jüngst Konsumenten erneut davor gewarnt hat, dass Produkte, die als so wirksam wie ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel beworben werden, wahrscheinlich mit eben solchen Arzneimitteln kontaminiert sind. „Für Konsumenten gibt es keinen Weg zu wissen, welche Wirkstoffe oder Bestandteile sich tatsächlich im Produkt befinden, wenn sie nur die Inhaltsstoffe auf dem Etikett lesen“, betont Gary Coody, Experte der FDA für Betrug im nationalen Gesundheitswesen. „Einige dieser Produkte enthalten bis zu sechs verschiedene Inhaltsstoffe, die in von der FDA genehmigten, verschreibungspflichtigen Medikamenten enthalten sind oder bei denen es sich um Analoga dieser Wirkstoffe handelt. Wir wissen nicht, welche Gefahr hiervon ausgeht, denn diese Kombinationen sind niemals getestet worden, bevor sie an nichtsahnende Konsumenten verkauft werden.“
Das größte Problem bei undeklarierten Wirkstoffen sind jedoch potenziell gefährliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Bestes Beispiel: Kontraindikationen für den Einsatz von Phosphodiesterase-5-Inhibitoren wie Sildenafil, Vardenafil und Tadalafil sind eine gleichzeitige Therapie mit Nitraten oder Molsidomin. Außerdem darf diese Substanzklasse nicht eingesetzt werden, wenn beispielsweise eine koronare Herzkrankheit, arterielle Hypotonie oder Herzinsuffizienz besteht. „Wenn Konsumenten Produkte einnehmen, die undeklarierte Wirkstoffe enthalten, setzt dies Patienten einer Gefahr durch potenziell schwerwiegende Wechselwirkungen aus“, meint Dr. Daniel Dos Santos von der Abteilung für Nahrungsergänzungsmittelprogramme der FDA.
Wie auch in den USA gelten Nahrungsergänzungsmittel hierzulande nicht als Arznei-, sondern als Lebensmittel und fallen daher unter die Regelungen des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs. Seit 2004 sind erlaubte Vitamine und Mineralstoffe im Anhang zur Nahrungsergänzungsmittelverordnung aufgeführt – für sonstige Stoffe wie Pflanzenextrakte gibt es dagegen bisher keine Bestimmungen. Auch verbindliche Regelungen zu Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe finden sich weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene. Zudem müssen Nahrungsergänzungsmittel in Deutschland lediglich beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit registriert werden, für die Sicherheit der Produkte sind jedoch allein die Hersteller und Vertreiber zuständig. Die Überwachung der auf dem Markt befindlichen Produkte erfolgt stichprobenartig und ist Ländersache. Da Nahrungsergänzungsmittel zu den Lebensmitteln zählen, dürfen sie nicht dazu bestimmt sein, Krankheiten zu heilen oder zu verhüten. Welche Werbeaussagen erlaubt sind, ist in der Health Claims Verordnung geregelt – was aber viele Hersteller nicht davon abhält zu suggerieren, ihre Produkte seien so wirksam wie Medikamente. Beispielsweise werden Potenzmittel nicht explizit zur Behandlung der erektilen Dysfunktion empfohlen – stattdessen werden die Pillen damit beworben, die Lust und sexuelle Leistungsfähigkeit zu steigern und als natürliche Alternative zu Viagra und Co. dargestellt.
Obwohl man bei der schieren Fülle von angebotenen Nahrungsergänzungsmitteln den Eindruck gewinnen könnte, die meisten Menschen seien heute unterversorgt, sieht die Realität anders aus: Von einer großflächigen Mangelversorgung kann keine Rede sein. Wer sich ausgewogen und abwechslungsreich ernährt, ist im Regelfall auch gut mit allen lebenswichtigen Vitaminen und Mineralstoffen versorgt. Nahrungsergänzungsmittel sind also normalerweise überflüssig. Es gibt jedoch einzelne Risikogruppen, wie zum Beispiel Schwangere, Ältere oder Personen mit einseitiger Ernährung, bei denen eine Versorgungslücke bezüglich bestimmter Nährstoffe bestehen könnte. Dass sich eine ungesunde Ernährung einfach mit Nahrungsergänzungsmitteln ausgleichen lässt, ist dagegen ein Trugschluss. „In den 1980er- und 1990er-Jahren reduzierte man die positiven gesundheitlichen Effekte von Gemüse und Obst auf bestimmte Inhaltsstoffe, insbesondere Vitamine“, resümiert Prof. Bernhard Watzl vom Max-Rubner-Institut. „Heute wissen wir, dass vielmehr die Vielfalt biologisch aktiver Substanzen, die wir durch einen hohen Konsum von Gemüse und Obst aufnehmen, insgesamt positive Wirkungen auf die Gesundheit hat.“ Na dann: Guten Appetit! Originalpublikation: Emergency Department Visits for Adverse Events Related to Dietary Supplements [Paywall] Andrew I. Geller et al.; N Engl J Med., doi: 10.1056/NEJMsa1504267; 2015