KOMMENTAR | Die drastischen Maßnahmen der chinesischen Regierung scheinen die Ausbreitung von SARS-CoV-2 eingedämmt zu haben. Kann man hier also von einem Erfolg sprechen? Aus epidemiologischer Sicht ja. Und moralisch? Ich finde nicht.
Am 28.02.2020 hat die WHO zusammen mit der chinesischen Regierung einen Bericht mit verblüffenden Ergebnissen veröffentlicht: Die Rate der täglichen Neuinfektionen sinkt deutlich. Das wirft Fragen für alle anderen betroffenen Länder sowie für mögliche zukünftige Pandemien auf: Sind die zum Teil aggressiven Maßnahmen der chinesischen Regierung womöglich doch der richtige Weg, um das Virus in den Griff zu bekommen?
Während in den meisten Ländern die Rate der SARS-CoV-2-Infektionen exponentiell zunimmt, meldet China jeden Tag weniger neue Fälle. Laut des Berichts scheint COVID-19 in China bereits Ende Januar den Höhepunkt erreicht zu haben. Doch wie haben sie das geschafft?
Die wohl umstrittenste Maßnahme: Die komplette Sperrung von Wuhan und benachbarten Städten der Provinz Hubei. Dadurch wurden seit dem 23.01.2020 mindestens 50 Millionen Menschen faktisch unter Quarantäne gestellt. Auch in anderen Regionen Chinas gab es Quarantänemaßnahmen. Binnen über einer Woche wurden zwei Krankenhäuser in Wuhan gebaut, Gesundheitspersonal aus dem ganzen Land in betroffene Regionen geschickt, potenziell Infizierte und deren Kontaktpersonen gezielt aufgespürt, Sportveranstaltungen abgesagt und Theather geschlossen.
Damit nicht genug: Wer sich in der Öffentlichkeit aufhielt, musste eine Maske tragen. AliPay und WeChat, zwei Apps zum bargeldlosen Bezahlen, ermöglichen das Tracking von Einwohnern. Nutzer melden sich mit ihren persönlichen Daten an und erhalten automatisch einen QR-Code in den Farben grün, gelb oder rot. Während ein grüner keine Einschränkungen mit sich bringt, kann ein gelber bis zu 7 Tage Hausarrest, ein roter eine zweiwöchige Quarantäne nach sich ziehen. Unklar bleibt allerdings, auf welchen Informationen die Zuordnung zu den Risikogruppen basiert. Es mehren sich Stimmen von Betroffenen, die offenbar ohne ersichtlichen Anlass einen roten Code zugewiesen bekommen haben.
Diese Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der persönlichen Freiheit waren effektiv, doch sind sie deswegen gerechtfertigt und auch in anderen Ländern umsetzbar? Um für sich selbst eine Antwort zu finden, stößt man unweigerlich auf zwei philosophische Strömungen der Moralethik: Konsequentialismus vs. Deontologie.
Heruntergebrochen besagt der Konsequentialismus, dass eine Handlung genau dann moralisch richtig ist, wenn sie das Wohlergehen aller Betroffenen maximiert. Was somit „das Gute“ ist, muss zunächst je nach Sachverhalt spezifiziert werden. Gerne wird hier die stark zugespitzte Maxime „Der Zweck heiligt die Mittel“ angeführt.
Konsequentialistische Handlungen wirken auf den ersten Blick intuitiv, können aber in gewissen Situationen gegen die Menschenwürde verstoßen, fand auch das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 2006: Die Ermächtigung der Streitkräfte durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt weden soll, ist mit dem Recht auf Leben und der Menschenwürde nicht vereinbar, soweit tatunbeteiligte Menschen an Bord des Flugzeugs betroffen werden.
Als Deontologie wird eine Pflichtethik bezeichnet, die den Charakter bestimmter Handlungen als intrinsisch gut oder schlecht bewertet und daraus ableitet, ob diese verboten sind oder nicht. Ein Beispiel ist Kants Behauptung, Lügen sei unabhängig von den Folgen falsch. Also können selbst positive Auswirkungen in einigen Fällen gewisse Entscheidungen und Handlungen nicht rechtfertigen. Häufig kritisiert wird die scheinbare Willkür, wann eine Handlung intrinsisch gut oder schlecht ist. Außerdem kann die strikte Einhaltung deontologischer Normen katastrophale Folgen haben. Nach Kants absolutistischer Konzeption: Besser, das ganze Volk geht zugrunde, als dass eine Ungerechtigkeit getan wird.
China hat sich für einen drastischen konsequentialistischen Weg entschieden, in Deutschland werden Maßnahmen wohl nicht über Absperrungen von Städten, Absagen von Massenveranstaltungen sowie Schließungen von öffentlichen Einrichtungen hinausgehen.
Für welchen Weg man sich auch entscheiden mag; bei COVID-19 können wir über die epidemiologische Entwicklung in China froh sein. Trotzdem sollte man sich gleichzeitig fragen, ob nicht alternative Möglichkeiten existieren, die auch mit einem freien Gesellschaftsbild vertretbar sind.
Bildquelle: Sacha T'Sas, unsplash