Das Risiko von Kindern, zwischen 0 und 4 Jahren an Leukämie zu erkranken, erhöht sich, je näher der Wohnort an einer Autobahn oder Kraftfahrstraße gelegen ist. Bei einer Distanz von 100 Metern ist das Risiko doppelt so hoch im Vergleich zu 500 Metern Abstand.
Die Ursachen von Krebserkrankungen bei Kindern sind noch weitestgehend unbekannt. Neben einer gewissen genetischen Veranlagung wird auch der Einfluss von verschiedenen Umweltfaktoren diskutiert, wie zum Beispiel die Luftverschmutzung durch Autoabgase – sie enthalten Benzol und andere bekannte krebserregende Stoffe. Eine Studie der Forschergruppe um Ben Spycher und Claudia Kuehni vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern (ISPM) erhärtet nun die Vermutung, dass Verkehrsabgase das Leukämierisiko bei Kindern erhöhen.
„Zwar ist die mittlere Schadstoffbelastung durch den Verkehr in der Schweiz seit den 90er Jahren dank strengeren Vorschriften zurückgegangen – es gibt aber große räumliche Unterschiede“, sagt Spycher. In unmittelbarer Nähe von viel befahrenen Straßen wie Autobahnen sind die Schadstoffkonzentrationen in der Luft immer noch stark erhöht. Sie fallen jedoch innerhalb von wenigen hundert Metern rasch ab. „Mehrere Studien aus anderen Ländern fanden ebenfalls Hinweise für ein erhöhtes Leukämierisiko bei Kindern, die nahe an stark befahrenen Straßen aufwuchsen“, ergänzt Kuehni, Leiterin des Schweizer Kinderkrebsregisters. Die ISPM-Studie basiert auf Daten des Schweizer Kinderkrebsregisters (SKKR) und der Schweizerischen National Kohorte (SNC), welche alle in den Volkszählungen 1990 und 2000 erfassten Kinder einschließt; dies sind insgesamt über 2 Millionen. Aus dem Kinderkrebsregister wurden alle im Zeitraum 1985 bis 2008 registrierten Krebsdiagnosen bei Kindern unter 16 Jahren eingeschlossen. Um festzustellen, welche Kinder erkrankten, verlinkten die Forscher anonyme Datensätze des SNC und SKKR miteinander. Genaue Koordinaten des Wohnorts zum Zeitpunkt der Volkszählung waren für nahezu alle Kinder bekannt.
Das ISPM-Team untersuchte nun, ob Kinder, die sehr nahe an Autobahnen oder Autostraßen aufwuchsen, ein erhöhtes Krebsrisiko aufwiesen. Die Forscher teilten die Wohnorte der Kinder zum Zeitpunkt der Volkzählung in verschiedene Distanzgruppen ein (weniger als 100 Meter, 100-250 Meter, 250-500 Meter und über 500 Meter von der nächsten Autobahn oder Autostraße entfernt). Anschließend wurden die bis zum Jahr 2008 auftretenden Krebserkrankungen aus dem Kinderkrebsregister erfasst. Dann verglichen die Forscher die Leukämiehäufigkeit in den verschiedenen Distanzkategorien. Bei einer zweiten Untersuchungsmethode wurde aufgrund der Volkzählungsdaten abgeschätzt, wie viele Personenjahre insgesamt von allen in der Schweiz wohnhaften Kindern in den verschiedenen Distanzgruppen zwischen 1985 und 2008 durchlebt wurden – für jedes gelebte Kalenderjahr trägt ein Kind ein Personenjahr bei. Auch hier wurde die Inzidenzrate (Leukämiefälle pro Personenjahre) zwischen den Distanzgruppen verglichen. Bei der ersten Methode waren die Fallzahlen kleiner (insgesamt 1.783 Krebsfälle) als bei der zweiten Methode (4.263 Krebsfälle). Dies liegt daran, dass bei der ersten Methode nur Kinder eingeschlossen werden konnten, die man just zum Zeitpunkt der beiden Volkszählungen erfasst hatte. Die zweite Methode orientiert sich hingegen an einem größeren Zeitraum und umfasst somit mehr Personenjahre, ist aber aufgrund teilweise fehlender Daten vor und nach den Volkszählungen weniger präzise.
Beide Methoden zeigten sehr ähnliche Resultate, wie Kuehni und Spycher erläutern: Für Leukämien wurde bei Kindern in der Distanzkategorie unter 100 Meter ein um 47 Prozent (erste Methode), beziehungsweise 57 Prozent (zweite Methode) erhöhtes Risiko gefunden im Vergleich zu Kindern, die mehr als einen halben Kilometer zur nächsten Autobahn oder Autostraße wohnten. „Zwar erkrankten in dieser Distanzkategorie im Beobachtungszeitraum ‚nur‘ 30 Kinder an Leukämien“, erläutert Kuehni. „Bezogen auf die Personenjahre entspricht dies jedoch einer Leukämierate von 7,2 Fällen pro 100.000 Personenjahre im Vergleich zu 4,5 Fällen pro 100.000 Personenjahren bei Kindern, die weiter als 500 Meter von einer Autobahn oder Autostraße entfernt lebten.“ Dieser Unterschied sei trotz der tiefen Fallzahlen statistisch signifikant. Bei einer Unterteilung nach Altersklassen zeigte sich, dass sich die Risikoerhöhung auf 0- bis 4-jährige Kinder beschränkt. „In dieser Altersgruppe war das Leukämierisiko bei einem Wohnort innerhalb 100 Meter neben einer Autobahn etwa doppelt so hoch wie bei einem Abstand der Wohnung von 500 Metern oder mehr“, sagt Spycher. Bei den anderen Distanzkategorien sowie für andere Krebsarten, etwa Hirntumore und Lymphome, fanden die Forscher keine klaren Hinweise auf ein erhöhtes Risiko. Die Tatsache, dass nur bei Leukämien ein erhöhtes Risiko gefunden wurde, könnte laut den Autoren auf Benzol als mögliche Ursache hinweisen. So ist bekannt, dass eine hohe Benzolbelastung am Arbeitsplatz bei Erwachsenen Leukämien auslösen kann.
Die Forscher untersuchten auch, ob sich ihre Resultate eventuell durch andere Faktoren erklären ließen wie sozio-ökonomische Unterschiede, ionisierende Hintergrundstrahlung aus dem Weltall und dem Erdgestein oder Distanz zu Hochspannungsleitungen. Doch dies war nicht der Fall: „Insgesamt deuten die Resultate tatsächlich darauf hin, dass Luftverschmutzung durch den Verkehr das Risiko für Kinderleukämien erhöhen kann, insbesondere im Kleinkindalter“, sagt Kuehni. Originalpublikation: Childhood cancer and residential exposure to highways: a nationwide cohort study Ben D Spycher et al.; European Journal of Epidemiology, doi: 10.1007/s10654-015-0091-9; 2015